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Slowakei stimmt ab über Recht auf Abwahl

Ignazio Cassis und Zuzana Caputova bei einem Besuch der ETH Zürich
Zuzana Čaputová besuchte bei ihrem Staatsbesuch in der Schweiz im letzten Jahr mit Bundespräsident Ignazio Cassis die ETH Zürich. © Keystone / Michael Buholzer

Mittels Volksinitiativen Neuwahlen auslösen: In der Schweiz sind solche Anläufe selten und immer gescheitert. Am nächsten Sonntag probiert es die Slowakei. Wie wahrscheinlich ist, dass sich das Volksrecht dort durchsetzt? Eine Analyse.

Die grossen leuchtenden Anzeigetafeln an den Einfallstrassen in die slowakische Hauptstadt sind nicht zu übersehen: «Banco Casino», «Olympic Casino», «Topname Club». Sie alle laden Gäste vornehmlich aus dem nahen Ausland zum Geldspiel ein – denn just an der Stadtgrenze von Bratislava beginnt Österreich.

Das Referendum in der Slowakei war erfolglos. Es erreichte die nötige Schwelle von 50%-Stimmbeteiligung nicht. Nur 27.25% der Stimmberechtigten haben teilgenommen.

Kaum zu sehen zwischen diesen dominierenden Werbesäulen sind in diesen Tagen die Plakate des früheren Ministerpräsident Robert Fico, auf denen er für ein «Áno» (Ja) im Verfassungsreferendum vom 21. Januar wirbt. Fico und seine linkspopulistische Smer-Partei gehören zur neueren slowakischen Geschichte ebenso wie die regelmässig stattfindenden Verfassungsabstimmungen.

Auch wenn die Hürden dafür hoch sind: Für deren Auslösung müssen in diesem Land von rund 5,5 Millionen Einwohner:innen 350’000 gültige Unterschriften gesammelt werden. Das entspricht fast 8% der Stimmberechtigten. Zum Vergleich: In der Schweiz braucht es für eine gültige Verfassungsinitiative nur knapp zwei Prozent der Unterschriften.

Bei der Volksabstimmung vom 21. Januar geht es um die Frage, ob in der slowakischen Verfassung ein Artikel verankert werden soll, der die Ausrufung vorgezogener Neuwahlen via Volksinitiative oder Mehrheitsentscheid im Parlament ermöglichen soll. «Ein Ja zu dieser Initiative würde die slowakische Demokratie destabilisieren», sagt Milan Nič im Gespräch mit swissinfo.ch.

Milan Nič
Milan Nič zvg/handout

Der in Berlin als Experte für Osteuropa in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik wirkende Nič ist ein genauer Beobachter der slowakischen Politszene: «Obwohl unsere politische Kultur jener Ungarns mehr ähnelt als etwa jener Tschechiens, also mit jenem Land, mit dem wir zwischen 1918 und 1993 einen gemeinsamen Staat gebildet hatten, sind wir eine viel pluralistischere Gesellschaft als die ungarische», sagt Nič.

Diese Einschätzung teilt der Schweizer Zoltán Tibor Pállinger, Rektor der Budapester Andrássy Universität: «In der Slowakei ist es zu Machtwechseln gekommen, und im Präsidentenpalast sitzt mit Zuzana Čaputová eine Alternative». Dazu, so Pállinger, verfüge die Slowakei über eine viel stärkere und unabhängigere Zivilgesellschaft als Ungarn: «Das ist die Hauptursache für die Widerstandsfähigkeit der Demokratie im Land.»

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Wiederholt ist es politischen Oppositionsparteien und zivilgesellschaftlichen Bündnissen in den letzten 30 Jahren seit Bestehen der Slowakei als eigenständiger Staat gelungen, die notwendigen Unterschriften für eine gültige Verfassungsabstimmung zusammenzubringen.

Für den anstehenden Urnengang gelang es dem Bündnis für das Referendum innerhalb von wenigen Monaten, mehr als 600’000 Unterschriften zu sammeln: «Dabei wissen die federführenden Oppositionspolitiker ganz genau, dass sie mit ihrem Vorstoss die notwendigen Mehrheiten nicht erreichen werden“, sagt Milan Nič und fügt hinzu: «Stattdessen nutzen sie den Prozess als Mobilisierungsinstrument».

Die Hürde in der Slowakei 

Wie in der Schweiz reicht auch in der Slowakei eine einfache Mehrheit der Stimmenden in der Volksabstimmung nicht für einen juristisch verbindlichen Entscheid aus. Aber im Unterschied zur Schweiz, wo für eine Verfassungsänderung neben einem Volksmehr auch das sogenannte «Ständemehr» und damit eine zustimmende Mehrheit in einer Mehrheit der Kantone erforderlich ist, schreibt die slowakische Verfassung eine Mindeststimmbeteiligung von 50% vor.

Das erleichtert jenen Kräften die Arbeit beträchtlich, die nichts von der vorgeschlagenen Verfassungsänderung halten – im aktuellen Fall zur Möglichkeit vorgezogener Neuwahlen: Indem sie sich passiv verhalten oder gar zu einem Boykott der Abstimmung aufrufen, tragen sie dazu bei, dass letztlich die Nein-Stimmenden und die Nicht-Stimmenden gemeinsam zu einem formalen Scheitern einer Vorlage beitragen.

Von den seit 1993 durchgeführten 19 Verfassungsabstimmungen hat denn auch nur gerade eine diese 50%-Zustimmungshürde knapp übertroffen – jene über den Beitritt der Slowakei zur Europäischen Union im Jahre 2003. Und auch das war damals nur deshalb möglich, weil sich fast alle politischen Parteien sowohl für einen EU-Beitritt wie auch für eine Teilnahme an der Abstimmung stark gemacht hatten. Zudem wurde die Abstimmung ausnahmsweise nicht wie üblich nur an einem, sondern über zwei Tage abgehalten.

Die indirekte Rolle der direkten Demokratie

Ähnlich wie in der Schweiz, wo die Erfolgsquote von Volksinitiativen an der Urne gut zehn Prozent beträgt, spielt dieses Instrument der direkten Demokratie auch in der Slowakei in erster Linie eine indirekte Rolle.

Dass das Volksrecht dabei wiederholt dafür eingesetzt wird, einem gewählten Parlament das Mandat vorzeitig zu entziehen – wie aktuell in der Slowakei – ist auch in der Schweizer Geschichte vorgekommen.

Bereits zuvor hatte es aus verschiedenen politischen Lagern Versuche für solche Volksbegehren gegeben, die in der Abstimmung klar scheiterten: So bat 1879 der Schaffhauser Nationalrat und Globetrotter Wilhelm Joos mit seiner «Banknoteninitiative» um vorgezogene Neuwahlen.

Mitte der 1930er-Jahre erfolgte der Frontalangriff konservativ-faschistischer Kreise auf die Demokratie mit der «Totalrevisionsinitiative», welche die Kollegialbehörde Bundesrat durch ein autoritäres Regime ersetzen wollte. In der Abstimmung vom 8. September 1935 sprachen sich fast drei Viertel der Stimmberechtigten dagegen aus.

Laut der polnischen Politologin Elżbieta Kużelewska, die an der Universität von Białystok das Zentrum für direktdemokratische Studien leitet, funktionieren Volksinitiativen in der Slowakei als «Stresstest für die Demokratie». So spielten im Vorfeld der Abstimmung von dieser Woche sowohl die Staatspräsidentin als auch der Verfassungsgerichtshof wiederholt eine wichtige Rolle: Bevor Präsidentin Čaputová die Abstimmung ansetzte, liess sie die Neuwahlinitiative rechtlich prüfen. Ein erster Anlauf der Initiant:innen im Jahr 2021 wurde vom Gericht für ungültig erklärt, beim zweiten Anlauf wurde nur eine von zwei Fragen zugelassen.

Neuwahlen möglich, Casinos schliessen

Drei Jahrzehnte nach Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit zeigt sich nun: Die Slowakei geht den mühseligen Weg von Entscheidungsfindungen über die direktdemokratischen Volksrechte. So wie ihn die Schweiz unter ganz anderen Voraussetzungen schon viel länger geht.

Die Verfassungsabstimmung dient dabei den Abgeordneten im Parlament als Fingerzeig, sowie dies vor kurzem eine lokale Volksinitiative für das Verbot von Geldspielcasinos in Bratislava war. Nachdem der entsprechende Vorstoss von fast jeder vierten Einwohnerin und jedem vierten Einwohner der Hauptstadt unterzeichnet worden war, sprach sich das Stadtparlament mit 39:1 Stimmen für das Ende des lukrativen Geschäftes aus: Bis in zwei Jahren müssen die Casinos und ihre aufdringliche Werbung aus dem Stadtbild verschwinden.

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