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Der Faktor Vertrauen: Was ist seine Bedeutung für die Schweiz

Polizeiausbildung in der Schweiz: Vorbereitung auf Extremsituationen

Polizeitraining Ostschweiz
Thomas Kern/swissinfo.ch

Die Polizei geniesst in der Schweiz im internationalen Vergleich viel Vertrauen. Damit das auch so bleibt, üben Polizist:innen in der Ausbildung auch Verhältnismässigkeit, wenn eine Situation zu eskalieren droht. Das gelingt nicht immer. Im Training der Polizeischule Ostschweiz.

«Als Polizist kannst du eine Verkehrskontrolle auf unterschiedliche Arten machen», sagt Fabia Freienmuth. «Ich kann hingehen, meine Arme verschränken und sagen: ‘Guten Tag, Soso, was haben wir denn heute wieder falsch gemacht?» Freienmuth schnaubt demonstrativ.

Dann lächelt sie und sagt: «Man kann es anders machen. Nämlich so, dass man die Situation deeskaliert, statt das Gegenüber zusätzlich zu provozieren.» Dann verlaufe die Kontrolle anders, die positive Interaktion schaffe eine Vertrauensbasis für künftige Begegnungen.

In der Schweiz geniesst die Polizei in der Bevölkerung mehr Vertrauen als die Wirtschaft, Politik, Gerichte und Medien. Die jährliche ETH-SicherheitsstudieExterner Link vergleicht auch das Vertrauen in Institutionen. Die Polizei erlangt dort seit 2007 immer den ersten Platz und hat in den letzten Jahren noch an Vertrauen gewonnen. Sie kommt 2023 auf den Wert 7,9 von 10 auf dem Vertrauensindex.

In Deutschland werden jährlich, manchmal auch mehrmals jährlich UmfragenExterner Link zum Thema Vertrauen in die Polizei, aber auch zu anderen Aspekten wie der medialen Wahrnehmung der Sicherheitsorgane, durchgeführt und veröffentlicht.  Im Durchschnitt lag das Vertrauen in die Polizei innerhalb der repräsentativen Gruppe zum Beispiel 2020 bei 7 von 10 Punkten. Im Unterschied zur Schweiz werden die Ergebnisse in Deutschland jedoch auch nach Faktoren wie MigrationshintergrundExterner Link aufgeschlüsselt oder zu einzelnen Ereignissen in Bezug gesetzt, etwa im Nachgang von rassistisch motivierten Anschlägen.

Für Grossbritannien zeigten regelmässige Studien, wie stark einzelne Ereignisse das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei beeinflussen. So sank das Vertrauen in die britische Polizei zwischen 2018 und 2021 um mehr als die Hälfte, nachdem ein Polizeibeamter der Vergewaltigung und des Mordes an einer jungen Frau in LondonExterner Link schuldig gesprochen worden war. Fälle von häuslicher oder partnerschaftlicher Gewalt durch Polizeibeamte werden in Grossbritannien erfasstExterner Link – und zeichnen ein düsteres Bild. Dass kaum Angeschuldigte disziplinarischen Massnahmen erhalten, beeinflusst das Vertrauen in die Polizei gerade innerhalb der weiblichen Bevölkerung negativ.

Auch in der Schweiz steht die Polizei regelmässig in der Kritik, unter anderem wegen ihrem Einsatz von Gummischrot an Demonstrationen. Eine Arbeitsgruppe der UNO hat der Schweizer Polizei letztes Jahr Racial Profiling vorgeworfen.

Dass in der Schweiz Vertrauen da ist, liegt wohl auch an der Arbeit von Fachpersonen wie Fabia Freienmuth. Die Kommunikationsexpertin an der Polizeischule Ostschweiz erklärt: «Die meisten Beschwerden, die gegen die Polizei hierzulande eingehen, betreffen nicht das Wieso einer Intervention – sondern das Wie.» Nur wenn man an diesem Wie arbeite, sagt Freienmuth, bleibe das Vertrauen hoch.

Leiterin Training Psychologie
Fabia Freienmuth im Gespräch mit SWI swissinfo.ch Thomas Kern/swissinfo.ch

An der Polizeischule Ostschweiz üben die Polizeischüler:innen seit zwei Jahren intensiv zwischenmenschliche Kommunikation.

Einerseits trainieren sie das das verbale Deeskalieren. Andererseits gibt es das «taktische Resilienztraining». Dort sind sie in Vollmontur unbekannten Situationen ausgesetzt. Die Szenarien setzen an, wo das Gespräch versagt hat. Es sind Situationen, in denen, so sagt es Freienmuth, reden nicht mehr reicht.

Das körperliche Stresslevel des Nachwuchs steigern

In der «Umrüstungszone» tauschen die ersten Teilnehmer, zwei junge Männer, ihre Dienstwaffen gegen Attrappen. Sie erhalten je ein mit Wasser gefülltes Pfefferspray und einen weicheren Schlagstock als im echten Einsatz.

«Tut euch etwas weh? Habt ihr gut geschlafen?», fragt der Trainer. Er trägt einen Helm, Arme und Beine sind gepolstert, Bauch und Rücken geschützt. Gleich wird er einen Kriminellen spielen.

Die Übungswaffen knallen und haben einen Rückstoss. Die Patronen fallen jedoch einfach zu Boden, wenn die Waffe ausgelöst ist. Ruppig kann es dennoch werden, denn die Schüler:innen sollen sich schliesslich verhalten, als sei es ein Ernstfall. Meist ist das Szenario erst vorbei, wenn «Abbruch» durch die Lausprecher ertönt.  

Die beiden Schüler werden mit geschlossenen Augen in den Übungsraum geführt. Dort müssen sie Kniebeugen machen und sich um die eigene Achse drehen. Dies steigert ihr körperliches Stresslevel.

Niemand weiss im Vorhinein, wie es in einer Extremsituation ist

Freienmuth beobachtet das Geschehen durch einen einseitig transparenten Spiegel, wie man sie aus amerikanischen Filmen kennt. «Es geht für uns nicht darum, dass die Schüler:innen die Szenarien perfekt lösen, sondern darum, dass sie Erfahrung sammeln und ihr Verhalten reflektieren», sagt sie.

«Die meisten unserer Schüler:innen sind recht behütet aufgewachsen, einzelne haben vielleicht Erfahrungen mit Raufereien oder kleinen Auseinandersetzungen unter Jugendlichen.» Das Wissen, wie es in einer Extremsituation ist, sei etwas anderes. Die Kommunikationstrainerin ist sich sicher: Die eigene Reaktion in hoch eskalativen Situationen muss man erlebt haben. Man kann das nicht in einem Schulzimmer lernen.

Stabiles Land, stabiles Geld, stabile Lebensentwürfe: Im internationalen Vergleich läuft vieles rund in der Schweiz.

SWI swissinfo.ch befasst sich in dieser Serie mit dem Vertrauen in Institutionen, dieser Grundlage für funktionierende Demokratien.

Wir gehen der Frage nach, wo die historischen Ursachen dafür liegen, dass für einige in der Schweiz Langeweile das grösste Problem ist, wie es um das Vertrauen in der Gegenwart bestellt ist – und welche Stolpersteine auf die Schweiz zukommen.

«Es ist zwei Uhr morgens», tönt es aus den Lautsprechern. Im Szenario geht es um Raub, neben anderen Delikten. Die beiden jungen Männer dürfen die Augen öffnen. «Raub impliziert, dass eine Waffe im Spiel ist», sagt Freienmuth zu SWI swissinfo.ch, «sie sollten sich bewusst sein, dass es potenziell sehr gefährlich wird.» Die beiden Schüler sehen einen der Tatverdächtigen.

Die Schüler geben Befehle, schreien, gehen kurz in Deckung. Einen Moment lang wirken sie panisch, bevor sie versuchen, dem Tatverdächtigen Handschellen anzulegen.

Da taucht hinter ihnen ein zweiter, bisher unbemerkter Mann auf. Es kommt zu einem Handgemenge, Schüsse fallen. Ein Angreifer geht zu Boden, den anderen bringen die Polizeischüler nach einigem hin und her unter Kontrolle. «Szenario Ende» klingt es aus den Lausprechern. Das Licht geht an. Die Schüler lösen den Trainern die Handfesseln und helfen ihnen auf die Beine. Eine Pause gibt es nicht.

Zum Glück nur eine Übung

Neue Situation. «Nachmittags um drei, es ist hell. Wir befinden uns auf einer öffentlichen Strasse.  Es hat einen Verkehrsunfall gegeben. Sachschaden, zwei Beteiligte», tönt es aus den Lautsprechern. Die Situation scheint angespannt – aber bewältigbar.

Bis die beiden Beteiligten aufeinander losgehen. Die Schüler können die beiden nicht schnell genug trennen. Ein Gerangel. Messer. Einer sticht auf den anderen ein. In der Realität gäbe es vielleicht einen Toten.

Eine Frage der Verhältnismässigkeit

Dann absolviert ein Frauenteam dieselben zwei Szenarien, auch bei ihnen kommt es zur Schussabgabe. Die Polizeischülerinnen sind mit sich und dem Training zufrieden. «Solange wir etwas machen, ist alles gut», sagt eine. «Ich wäre nicht zufrieden, wenn ich erstarrt wäre.»

zwei Polizistinnen Trainees
Thomas Kern/swissinfo.ch

Grob lassen sich die Reaktionen in der Trainingssituation eine von drei Kategorien unterteilen: Fight, flight and freeze. «Die wenigsten können in der Theorie sagen, wie sie reagieren, wenn auf sie geschossen wird», sagt Freienmuth.

Die Übung soll denn Schüler:innen helfen, etwas über sich zu lernen: «Wenn zum Beispiel jemand merkt, dass er oder sie unverhältnismässig wütend wird oder gar zu Zwangsmitteln greift, weil jemand den Befehlen nicht Folge leistet, müssen wir das reflektieren und einen Umgang erarbeiten.»

Und was ist, wenn Schüler:innen im echten Einsatz falsch reagieren? «Nach jedem Einsatz gibt es ein Debriefing», sagt Freienmuth. Das sei der Rahmen, das zu diskutieren.

Manchmal sei es aber schwierig, Fehlverhalten zu benennen und die Reflexion, die man an der Schule lernt, in die Praxis zu bringen.

«Die Polizei ist ein hierarchisches System»

Früher machten die Polizeischüler:innen diese Erfahrungen erst im Ernstfall. «Wenn ich dann erst merke, dass ich bei Dunkelheit handlungsunfähig bin, ist das ungünstig», sagt Freienmuth.

Eine modernisierte Polizeiausbildung kann aber nicht alle Probleme lösen. «Die Polizei ist ein hierarchisches System, und es ist so, dass jemand, der länger dabei ist, mehr zu sagen hat, als jemand der gerade erst angefangen hat.»

Das taktische Resilienztraining erhält von den Polizeikorps überwiegend positive Rückmeldungen.

Seit 2021 dauert die Polizeiausbildung in der Schweiz zwei Jahre. Das erste Ausbildungsjahr absolvieren die Schüler:innen an einer der sechs Schweizer Polizeischulen. Das zweite Ausbildungsjahr erfolgt als eine Art Praktikum im eigenen Polizeikorps. Handlungstrainings und (Schiess-)Übungen, sowie der Einsatz von Zwangsmitteln werden an allen Polizeischulen geübt und später auch repetiert.

Kam es 2011 schweizweit noch zu 25 registrierten Schusswaffeneinsätzen durch die Polizei, waren es 2021 lediglich deren sechs. Dies ist der tiefste Wert der letzten zehn Jahre. Genaue Zahlen dazu, wie viele Personen in den letzten zehn Jahren durch Polizist:innen ums Leben kamen, gibt es hingegen keine. Seit der Black Lives Matter-Bewegung bekommt die Frage des Rassismus in Bezug auf Polizeigewalt vermehrt Aufmerksamkeit. Das Magazin „Republik“ berichteteExterner Link etwa, dass allein im Kanton Waadt in den vergangenen fünf Jahren vier Schwarze bei Polizeieinsätzen oder in Polizeigewahrsam verstorben sind.

Editiert von Mark Livingston

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