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Abstimmungen vom 18. Juni 2023

So soll eine klimaneutrale Schweiz 2050 aussehen

Fast 60% der Dächer des Landes müssten mit Sonnenkollektoren bedeckt sein, um bis 2050 CO2-neutral zu werden. Dies geht aus einer Studie hervor, die kurz vor der Volksabstimmung am Sonntag veröffentlicht wurde. © Keystone / Julien Grindat

Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben am Sonntag das Ziel des Bundes bestätigt, bis 2050 klimaneutral zu werden. Laut Studien ist es möglich, die Energieversorgung des Landes ohne fossile Brennstoffe zu sichern. Allerdings sind dafür erhebliche Verhaltensänderungen nötig, sagt ein Experte für Energiewende.

Die Schweiz soll bis 2050 nicht mehr Treibhausgase in die Atmosphäre ausstossen, als die natürlichen und künstlichen Speicher aufnehmen können. Dieses Ziel hat sich der Bund gesetzt. Am Sonntag haben die Stimmberechtigten dies in einer Volksabstimmung mit 59,1% Ja deutlich bestätigt. Doch viele Fragen bleiben offen.

Wie sieht eine Schweiz ohne oder mit sehr wenig fossilen Energien aus?

Ein Gebäude, das nur mit der Abwärme seiner Bewohnerinnen und Bewohner geheizt und mit Klappen als Klimaanlage gekühlt wird: Das Pilotprojekt «2226» in Luzern zeigt, wie die Architektur der Zukunft aussehen könnte.

Dieses Gebäude im Industriegebiet Emmenweid in Emmenbrücke, Kanton Luzern, benötigt weder eine Heizung noch ein Lüftungs- oder Kühlsystem. Es handelt sich um eine Premiere in der Schweiz. screenshot RTS

Für seine Erbauer:innen hat das in der Schweiz einzigartige Gebäude nur Vorteile. «Der Energieverbrauch liegt bei einem Drittel eines herkömmlichen Gebäudes mit Heizung und Klimaanlage. Wir sparen Geld und reduzieren gleichzeitig den CO2-Ausstoss», sagte Geschäftsführer Thies Böke am Westschweizer Radio und Fernsehen RTS.

Um das Klimaziel der Landesregierung zu erreichen, müssten in den nächsten 30 Jahren viele solche Häuser gebaut werden.

Gut isolierte Gebäude, die mit Wärmepumpen beheizt werden, Elektroautos und Lastwagen, die mit Wasserstoff fahren, der Ausbau von Solaranlagen, Windenergie und Maschinen, die unvermeidbare CO2-Emissionen abfangen: Mit einem Mix aus verschiedenen Massnahmen will der Bundesrat sein Ziel erreichen.

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Dina Tschumi, Prognos AG

Ist dieses Ziel realistisch?

Der Bund versichertExterner Link, dass die CO2-Emissionen aus Verkehr, Gebäudeheizung und -kühlung sowie Industrie mit heutiger Technologie und dem Einsatz erneuerbarer Energien um bis zu 95 Prozent gesenkt werden können. Auch andere Treibhausgase, vor allem in der Landwirtschaft, können reduziert werden.

Der Ausgleich der verbleibenden Emissionen soll durch natürliche CO2-Senken wie Wälder und Böden sowie durch Technologien erfolgen, die Treibhausgase aus der Atmosphäre entfernen oder direkt dort, wo sie entstehen, etwa in Müllverbrennungsanlagen, abscheiden und dauerhaft speichern.

«Dieser Übergang wird kommen, ob wir wollen oder nicht. Das Erdöl wird früher oder später knapp werden. Europa hat keine andere Wahl, als auf erneuerbare Energien zu setzen», sagt Marc MullerExterner Link, Ingenieur und unabhängiger Experte für die Energiewende.

Wenn man davon ausgeht, dass die Kosten viel höher sind, wenn nichts getan wird, wird sich die Politik trotz der langsamen demokratischen Prozesse in der Schweiz zusammenraufen und schnell an Lösungen arbeiten, glaubt Muller.

«Die Schweiz hat in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass sie schnell handeln kann, wenn sie unter Druck steht», sagt er. Dies werde ein entscheidender Faktor für den Erfolg der Transition sein.

«Je schneller wir die Kontrolle über unsere Energieproduktion zurückgewinnen, desto geringer ist das Risiko, dass wir die potenziell verheerenden Folgen einer weltweiten Energieverknappung zu spüren bekommen», sagt Muller.

Ist die Versorgungssicherheit gewährleistet?

Ja, wenn man zwei Studien Glauben schenkt, die kurz vor der Abstimmung veröffentlicht wurden. Die erste StudieExterner Link, die am 24. Mai von Fachleuten des Zentrums für Energiewissenschaften der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ) veröffentlicht wurde, kommt zum Schluss, dass dieses Ziel sowohl technisch als auch wirtschaftlich erreichbar ist. Der Weg dorthin führt über die Elektrifizierung von Verkehr und Raumwärme.

Diese Energiewende wird zwar den Strombedarf von heute 60 auf 80 bis 100 Terawattstunden (TWh) im Jahr 2050 ansteigen lassen. Diese Nachfrage könne aber durch den Ausbau der erneuerbaren Energien in der Schweiz und durch den Stromaustausch mit den Nachbarländern gedeckt werden, so die ETH-Forschenden.

Die zweite StudieExterner Link, die am 30. Mai von Forschenden der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) und der Fachhochschule Westschweiz (HES-SO) veröffentlicht wurde, geht noch einen Schritt weiter: Sie schätzt, dass die Schweiz bis 2050 CO2-neutral werden könnte, ohne Strom importieren zu müssen.

Der Schlüssel dazu liege in der massiven Produktion von Solarstrom im Sommer und dessen teilweiser Speicherung in Stauseen für die Nutzung im Winter.

In diesem Szenario müssten etwa 60 % der Dächer des Landes mit Solarmodulen belegt werden. Auch die Produktion von Windenergie müsste im Winter erhöht werden.

Dieses Energiesystem der Zukunft würde nicht nur die Umwelt weniger belasten, sondern auch weniger kosten, so die Forschenden. Öl, Gas und Strom müssten nicht mehr importiert werden, was langfristig zu Einsparungen von 30% führen würde.

Müssen die Menschen dafür ihre Gewohnheiten ändern?

Ohne Zweifel. «Das wird in den Berichten nicht immer betont, aber wir können diese Ziele nicht ohne strenge Sparmassnahmen erreichen», sagt Muller. Derzeit gibt es zum Beispiel keine praktikable Alternative, um den Flugverkehr kohlestofffrei zu machen.

«Um alle Flugzeuge sauber fliegen zu lassen, bräuchte man 30% des weltweit produzierten Stroms. Das ist eine Unverschämtheit, wenn man bedenkt, dass nur ein Prozent der Weltbevölkerung dieses Verkehrsmittel regelmässig nutzt», so Muller.

Marc Muller
Marc Muller ist Experte für den Energiewandel und leitet seine eigene Beratungsfirma. Impact living

In den Augen des Experten wird es auch notwendig sein, einen Teil der Industrieproduktion in unser Land zurückzuholen und die Importe aus Asien oder anderen Ländern drastisch zu reduzieren.

Andernfalls bestehe die Gefahr, dass andere Länder die Kosten der Transformation tragen müssten. «Aber das sagt man nicht gerne in einem Land, das seinen Wohlstand durch Freihandel und offene Märkte aufgebaut hat», sagt Muller.

Es wird auch darum gehen, die grosse Minderheit derer zu überzeugen, die am Sonntag Nein gestimmt haben. «Bisher hat man die Ökologie so unerwünscht wie möglich gemacht», so Muller.

Der Experte plädiert dafür, Normen und Auflagen zu reduzieren, um den Zugang zu einem klimaneutralen Lebensstil angenehmer zu gestalten. «Man muss zum Beispiel viele Formulare ausfüllen, um seine Heizung zu ersetzen, während man 50-mal im Jahr ohne grossen Papierkram fliegen darf. Das muss sich ändern», betont er.

Sind auch andere Länder auf dem Weg zur Klimaneutralität?

Laut der Plattform Net Zero TrackerExterner Link haben 148 (von 198) UNO-Mitgliedstaaten angekündigt, klimaneutral werden zu wollen. Zusammen repräsentieren sie 88% der globalen Emissionen und 85% der Weltbevölkerung.

Die meisten wollen dieses Ziel bis 2050 erreichen. Einige Länder wie Finnland (2035) oder Deutschland (2045) sind jedoch ehrgeiziger. China und Russland, die zu den grössten Emittenten der Welt gehören, streben das Jahr 2060 an.

Das Vereinigte Königreich hat 2019 als erstes grosses Industrieland seine Verpflichtung zur Netto-Treibhausgasneutralität gesetzlich verankert.

Mit der Abstimmung in der Schweiz am Sonntag haben insgesamt 26 Länder die Klimaneutralität gesetzlich geregelt. Darunter Frankreich, Deutschland, Spanien, Dänemark, Japan und Südkorea.

«Kein Land hat die ideale Lösung gefunden, aber die nordischen Länder können uns inspirieren. Ich bewundere das dänische Beispiel, wo zwei Drittel der Windparks den Bürgerinnen und Bürgern gehören. So geht der ökologische Wandel Hand in Hand mit einer Demokratisierung der Energieinfrastruktur», sagt Muller.

Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

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