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Sozial- und Geisteswissenschaften unter Nutzendruck

Studenten lernen im Rolex-Center, dem Flagschiff der ETH Lausanne. Keystone

Der Umzug der Forschung und Bildung vom Innendepartement ins Wirtschaftsministerium erntete Beifall von Links bis Rechts. Vertreter der Sozial- und Geisteswissenschaften befürchten mehr Einfluss der Wirtschaft und die Tangierung der Forschungsfreiheit.

Bildung ist neben der Wasserkraft die einzige Ressource der Schweiz, lautet ein geflügeltes Wort aus den Schulstuben.

Der wertvolle Rohstoff Bildung erhält zwar im Schweizer Bundesrat weiterhin kein eigenes Departement. Doch innerhalb der Ministerien zügeln Bildung und Forschung ins Schweizer Volkswirtschaftsdepartement (EVD). Die Regierung stellte diese bildungspolitische Weiche nach über zehnjähriger Diskussion. Dafür gab es, was selten vorkommt, Lob der Parteien aller Lager.

Forschung kein Wachstumstreiber 

In der Wissenschaft selber stiess die Neuerung nicht nur auf Zustimmung. Die Akademien der Wissenschaften Schweiz  äusserten sich «skeptisch beziehungsweise ablehnend» zur Angliederung der Hochschulen ans Wirtschaftsdepartement.

Es sei ein Irrtum zu glauben, die Forschung könne ein direkter Treiber des Wirtschaftswachstums sein, hiess es in einem Brief an Innenminister Didier Burkhalter.

Dahinter steht die Befürchtung, Wirtschaftsverbände wie Economiesuisse könnten in «ihrem» Departement den Druck auf die Wissenschaften verstärken, sich auf schnell umsetzbare Forschungsergebnisse zu konzentrieren.

Isidor Wallimann, Sozialwissenschafter und Ökonom, teilt die Skepsis des Wissenschafts-Dachverbandes. «Die neue Zuteilung entspricht einem grösseren Wunsch, dass die Forschung in den Sozial- und Geisteswissenschaften anwendungsrelevanter, anders gesagt, nützlicher für die Handhabung von Problemen wird», sagt Wallimann gegenüber swissinfo.ch.

Alte Forderung

Zwar liegt die Neuordnung für den 67-Jährigen auf der Hand. «Die Eidgenössischen Technischen Hochschulen (ETH) sehen sich schon seit 15 oder 20 Jahren dem Vorwurf ausgesetzt, sie würden Wissen produzieren, das nicht nahe genug bei den Bedürfnissen der Wirtschaft liege», so Wallimann.

Die Frage, wie viel Grundlagenforschung und Grundlagenwissen die ETH weiter erzeugen solle, stelle sich bei den Sozial- und Geisteswissenschaften in besonderer Form. «Unter dieser Perspektive kann man schon befürchten, dass die Sozial- und Geisteswissenschaften vermehrt verwertbares Wissen erzeugen sollen, das auf eine bestimmte Problembewältigung und – Handhabung zugespitzt  ist», glaubt er.

Forschungsfreiheit von Verfassung garantiert

Dies stünde der Freiheit der Forschung entgegen, die seit 1999 in der Verfassung garantiert ist und die gerade in den Sozial- und Geisteswissenschaften als hohes Gut gilt.

Ökonomisch gesprochen – Wallimann ist ja auch Wirtschaftswissenschafter – tönt dies dann so: «Es herrscht die Tendenz, dass Wissen mit einer gewissen Geldsumme generiert werden kann. Die Investition in die Forschung soll mehr gesellschaftlichen Nutzen bringen.»

Grundlagenforschung und –wissen seien auf lange Sicht angelegt, nutzbringende Forschung dagegen auf unmittelbare Anwendung, differenziert er.

Grundlagenforschung im Bereich langfristiger Panel-Analysen würde über zehn oder zwanzig Jahre bis über zwei Generationen hinweg fortgeführt. Dabei würde über den unmittelbaren Nutzen oft lange keine Klarheit herrschen. «Eine spätere unmittelbare Anwendung kann man aber vielleicht nur aufgrund eines solchen grundlegenderen Wissens überhaupt effizient praktizieren», sagt der schweizerisch-amerikanische Doppelbürger, der noch an zwei Universitäten in den USA lehrt.

Wallimann illustriert dies am Thema Armut, das er als Mitautor der bisher einzigen Schweizer Langzeitstudie zum Thema kennt. «Ohne solche grösseren Studien können Fragen betreffend Armut in der Gesellschaft gar nicht nutzbringend erforscht werden.»

«Funktioniert meist nicht»

Mit dem Pochen auf eine anwendungsorientiertere Forschung in den Sozial- und Geisteswissenschaften droht die Wirtschaft, nicht nur am eigenen Ast zu sägen, auf dem sie selber sitzt, sondern die gerühmte Innovationsfreudigkeit und den Forschungsplatz Schweiz als solchen in Frage zu stellen. Mit den Worten Wallimanns: «Wenn man dem Glauben verfällt, Probleme mit Wissen aus kurzfristig verwertbarer Forschung angehen zu können, funktioniert das meistens nicht.»

Forschung, die auf Problemmanagement hin fokussiert sei, benötige stets ein Fundament von Daten, Zuständen oder Tendenzen, so die Erfahrung des Experten. «Ohne Grundlagenarbeit bleibt man eher hilflos und leistet Sisyphus-Arbeit, was die Bewältigung von Problemen betrifft.»

Macht des Agenda Setting

Die Eingliederung ins Wirtschaftsdepartement könnte sich auch auf einen anderen Punkt auswirken: Die Definition von gesellschaftlichen und politischen Problemfeldern. Wer Probleme definieren und somit generieren kann, bestimmt über die gesellschaftspolitische Agenda und stärkt somit seine Position als Akteur auf der gesellschaftspolitischen Bühne.

Soziale Integration ist laut Wallimann als Problem anerkannt, Armut dagegen nicht, abgesehen von Nischen wie dem ungleichen Zugang zum Bildungswesen in Verbindung mit sozialer Integration. Aber nur auf der Grundlage von breitangelegten Forschungen über die Armut könnten Teilbereiche wie die Integration von ethnischen und kulturellen Minderheiten angegangen werden, sagt er.

Lobbying verstärken

Die Vertreter der Sozial- und Geisteswissenschaften sind jetzt besonders gefordert. Sie müssen laut Wallimann insistieren, dass die Grundlagenforschung nicht nur erhalten, sondern ausgeweitet wird. «Bildungspolitiker und Wissenschaftsgremien, welche die Schwerpunkte setzen und die Forschungsbudgets genehmigen, müssen überzeugt werden, dass Grundlagenforschung nicht das Gegenteil von verwertbarem Wissen ist, sondern die Grundlage dazu», sagt er.

Wallimann plädiert dafür, Grundlagenforschung und angewandte Forschung als komplementär zu betrachten. «Grundlagenwissen ist die Voraussetzung, um angewandtes Wissen zu optimieren. Die Kombination stellt Effizienz sicher, wie viel nutzbares Wissen ich für wie viel Geld erhalte.»

Mit der Reorganisation von letztem Mittwoch sind die Bereiche Forschung, Bildung und Innovation ab 2013 im Volkswirtschaftsdepartement (EVD) vereint.

Bisher war das EDI für die ETH, Beiträge an Universitäten und Grundlagenforschung zuständig.

Berufsbildung, Fachhochschulen und angewandte Forschung waren dem EVD zugeordnet.

Im Gegenzug wechselt das Bundesamt für Veterinärwesen vom EVD ans Innendepartement (EDI).

Die Zweigleisigkeit mit zwei Ansprechstellen im Bildungsbereich führte zu Friktionen und Unklarheiten.

Der Bundesrat handelte auf Druck des Parlaments. Dieses hatte gedroht, in eigener Kompetenz ein Bildungsdepartement zu schaffen.

Der Bundesrat aber lehnte dies wie auch die Schaffung eines Sicherheitsdepartementes ab.

Der Bundesrat hatte eine Reorganisation während mehr als zehn Jahren ergebnislos diskutiert.

Bereits 1996 hatte der damalige Staatssekretär für Bildung und Forschung im Departement des Inneren (EDI), Heinrich Ursprung, eine Zusammenlegung des Bildungsbereichs im EVD angeregt.

Der 67-jährige Sozialwissenschafter und Ökonom ist Gastprofessor an den Universitäten von Syracuse (New York) und North Texas.

Frühere Stationen des schweizerisch-amerikanischen Doppelbürgers waren Professuren an den Universitäten Bern und Freiburg sowie zuletzt an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Basel.

Wallimann lehrte auch in Deutschland und Taiwan.

Er war u.a. Mitglied der Expertengruppe des DORE-Programm «Forschung an Fachhochschulen und an Pädagogischen Hochschulen» des Schweizerischen Nationalfonds (SNF).

Das Förderungsprogramm startete 2003 und lief dieses Jahr aus.

46 Mio. Franken steuerte der Nationalfonds bei, 15 Mio. stammten von Forschungs-Partnern.

Aus 750 Gesuchen wurden in den acht Jahren 302 unterstützt.

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