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Behindern strengere Einbürgerungskriterien die Integration?

Die Stadt Bern. Aufgrund einer 2013 angenommenen Initiative der Jungen SVP hat der Kanton Bern seine Einbürgerungs-Kriterien verschärft. Keystone

Elif und Emre leben seit 12 Jahren in der Schweiz. Wegen eines kantonalen Gesetzes zur besseren Integration neuer Staatsbürger mussten sie ihren Traum, den Schweizer Pass zu erhalten, bis auf weiteres auf Eis legen. Gemäss gewissen Kreisen gehen die neuen Einbürgerungs-Kriterien zu weit oder sind sogar kontraproduktiv.

2004 war es für das Ehepaar Elif* und Emre* klar, dass sie die Türkei verlassen mussten. Nach Angaben von Emre war es bei seinem letzten von mehreren Gefängnisaufenthalten zu Drohungen gegen seine Familie gekommen. Die beiden tauchten unter und konnten dank Kontakten zu einem Netzwerk von Demokratie-Aktivisten in den Westen ausreisen. Als der Lastwagen anhielt, waren sie in der Schweiz und beantragten Asyl.

Neun Jahre später haben beide Arbeit in einem Blindenheim in der Nähe der Schweizer Hauptstadt. Zwei Jahre lang waren sie finanziell unabhängig, und im Bericht ihres Sozialarbeiters hiess es, sie hätten «gute Deutschkenntnisse» und ein «breites soziales Netz in der Schweiz».

Gleichzeitig war im Kanton Bern eine Initiative lanciert worden, die verlangte, dass sich Personen, die in den letzten zehn Jahren Sozialhilfe bezogen hatten, nicht einbürgern können – ausser sie zahlen die Gelder zurück.

Nachdem das Berner Stimmvolk im November 2013 die Initiative mit 55,8% angenommen hatte, zeigte sich ihr Initiator Erich Hess von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), «äusserst zufrieden» mit dem Ergebnis, da es «den wachsenden Unmut über zahlreiche Einbürgerungsfälle» unter den Bernern ausdrücke.

«Glücklos»

Rund ein Jahr nach der Umsetzung von Hess› Massnahmen ging Elif auf die kantonale Migrationsbehörde, um sich über das Einbürgerungs-Verfahren zu informieren. Sie und Emre waren zwar noch nicht die erforderlichen 12 Jahre in der Schweiz, wollten aber sicher sein, dass sie alles Nötige für die Einbürgerung zusammen hatten, sollte es einmal so weit sein.

«Die Schweizer Staatsbürgerschaft zu erhalten, war immer unser Ziel», erklärt Elif. Auch wenn sie über die neuen Kriterien auf dem Laufenden waren, gingen sie und ihr Mann trotzdem zum vereinbarten Termin, in der Hoffnung, dass es eine Möglichkeit gebe, den Pass doch noch zu erhalten.

Die beiden wurden jedoch umgehend auf die Finanzdirektion geschickt, wo sie ihre Schulden bezahlen sollten: Nämlich 56’050,80 Franken an Sozialhilfe, die sie bezogen hatten, bevor sie einer regulären Arbeit nachgingen.

Für Francesca Chukwunyere von der Beratungsstelle für Ausländer in Bern (ISA) ist die Situation des Paars nichts Neues.

«Unser Unglück war, dass wir nach Bern geschickt wurden.» Elif

«Das neue Gesetz hat dazu geführt, dass sich weniger Personen um eine Einbürgerung bemühen», sagt sie. Und sie hat noch etwas anderes festgestellt: «Das Gefühl der betroffenen Leute, dass sie hier sowieso keine Chance haben, akzeptiert zu werden. So ziehen sie sich zurück und bleiben in ihren eigenen Gemeinschaften.» Und das sei nicht im Interesse der Integrations-Strategie der Schweiz, welche die Entstehung so genannter «Parallelgesellschaften» verhindern wolle.

Als Elif und Emre realisierten, dass sie die Sozialhilfegelder niemals zurückzahlen konnten, fühlten sie sich «demotiviert» und «pessimistisch» und zweifelten daran, je wirklich Teil dieser Gesellschaft zu werden.

«Unser Unglück war, dass wir nach Bern geschickt wurden», sagt Elif. Ihre Familie muss nun wegen der 10-Jahres-Schulden-Klausel bis 2021 warten, um erneut einen Einbürgerungs-Versuch zu starten. Danach dürfte es weitere drei oder mehr Jahre dauern, bis ein solches allenfalls gewährt wird. Diese lange Wartezeit in Bern hat gemäss einem Bericht in der Berner Zeitung mit dem bürokratischen Aufwand im Zusammenhang mit dem neuen Gesetz zu tun.

«Ich bin enttäuscht darüber, dass es dieses Gesetz überhaupt gibt», sagt Elif. «Ich fühle mich hier eigentlich nicht fremd, aber es führt dazu, dass ich mich wie eine Aussenseiterin fühle.»

Begrenzte Möglichkeiten

Die Geschichte von Elif und Emre

Das Paar versuchte kurz nach seiner Ankunft vor 12 Jahren in der Schweiz, Arbeit zu finden. Sie merkten aber bald, dass Asylbewerber weder arbeiten noch eine SIM-Karte für ihr Mobiltelefon kaufen konnten, um mögliche Arbeitgeber zu kontaktieren.

Elif bekam ein Kind, und die Familie wohnte in verschiedenen Wohnungen im Kanton Bern, bevor sie schliesslich den Flüchtlingsstatus erhielten. Weil sie damals nur beschränkt arbeiten konnten, wurden sie von der Sozialhilfe abhängig.

Nach zahlreichen Versuchen, eine Stelle als Bibliothekar oder als Lehrer zu erhalten – Emres Beruf in der Türkei – fand er ein Praktikum im Blindenheim, wo er heute arbeitet.

Elif, die eine Ausbildung als Kinderpsychologin hat, bekam einen Job als Kinderbetreuerin. Bis 2011 erhielt das Paar zusätzlich Sozialhilfegelder. Danach hatten beide eine fixe Anstellung.

Ihre Geschichte kommt Sophie Müller, einer Sozialarbeiterin in Wattenwil im Kanton Bern bekannt vor. «Personen im Asylverfahren, die aus der Unterstützungsphase für Asylbewerber kommen, sind in der Regel länger von der Sozialhilfe abhängig, insbesondere wenn sie nicht minderjährig sind oder nicht im Alter, um eine Lehre zu machen», sagt sie.

Es gibt immer mehr Möglichkeiten für Flüchtlinge und ältere Migranten, eine Ausbildung oder ein Praktikum zu machen, wie Emre dies getan hat. Gemäss Chukwunyere sind diese Angebote jedoch voller Tücken, insbesondere für Personen, die keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen wollen.

«Nehmen wir eine 35-jährige Person, die in ihrem Heimatland bereits Berufserfahrungen gesammelt hat und jetzt an einer Stelle eingesetzt wird, die hier für einen 16-Jährigen vorgesehen ist», sagt sie.

«Die Ausbildung kann zwei bis vier Jahre dauern. Und in dieser Zeit kann man vom Geld, das man in diesem Job verdient, nicht leben. Das bedeutet, dass man erneut von der Sozialhilfe abhängig ist.»

Da Aufenthaltsbewilligung und Einbürgerungskriterien mit der Sozialhilfe verknüpft sind, wollten viele, mit denen Müller und Chukwunyere zusammenarbeiteten, keine Sozialhilfe beziehen, weil sie die Konsequenzen kennen.

«Sie hätten ganz klar Anrecht auf Sozialhilfe, da sie als ‹working poor› eingestuft werden. Sie wollen aber diese Unterstützung nicht mehr – und was bedeutet das für ihre Kinder?», fragt sich Chukwunyere.

Besonders betroffen sind laut Müller junge Migranten, die auf Sozialhilfe angewiesen seien. «Diese jungen Menschen sind an der Einbürgerung nicht interessiert, zumindest nicht sofort. Sie wollen aber eine Aufenthaltserlaubnis, um in der Schweiz zu arbeiten. Um einen besseren Ausweis zu erhalten, müssen sie beweisen, dass sie keine Sozialhilfe erhalten. Für junge Menschen, die ihre Familien unterstützen müssen, ist das praktisch unmöglich.

Verschärfung in Sicht

Obwohl sich Elif und Emre entmutigt fühlen, weil sie noch fast zehn Jahre warten müssen, um den Schweizer Pass zu bekommen, wollen sie das tun und sich in dieser Zeit dafür einsetzen, dass das Gesetz ausser Kraft gesetzt wird.

Allerdings könnte ihnen ein harter politscher Wind entgegen blasen, denn auch in anderen Kantonen werden ähnliche Gesetze diskutiert oder sind bereits in Kraft, wie etwa in Uri, Basel-Stadt und Aargau. Und das neue Bürgerrechtsgesetz, das 2018 in Kraft tritt, wird einen ähnlichen Effekt haben. Es verlangt nämlich von Bewerbern um die Staatsbürgerschaft eine Niederlassungsbewilligung C. Diese wird in der Regel nur erteilt, wenn die Sozialhilfe-Schulden abbezahlt sind.

Unterdessen hat die Zahl an Einbürgerungsgesuchen im Kanton Bern erneut zugenommen, nachdem sie nach Annahme der Initiative «Keine Einbürgerung von Verbrechern und Sozialhilfeempfängern!» deutlich gesunken war.

«Ich bin sicher, dass es ohne das Gesetz mehr Gesuche gegeben hätte», sagte Hess gegenüber der Tageszeitung Der Bund und fügte an, seine Partei stehe für Qualität, nicht für Quantität, wenn es um Einbürgerung gehe, und heute seien die Eingebürgerten dank der neuen Kriterien besser integriert.

Chukwunyere fragt sich allerdings, was das für den Viertel der Schweizer Bevölkerung ohne roten Pass bedeutet.

«Studien zeigen, dass sich die Leute erst richtig zu Hause fühlen, wenn sie partizipieren können», betont sie. «Und hier kann sich nur voll beteiligen, wer Schweizer ist. Wenn man die Latte aber dermassen hoch legt, dass alle wissen, dass diese unerreicht bleibt, erreicht man das Gegenteil von Integration.»

*Namen geändert

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