Sprachminderheiten im Wettbewerb mit Englisch
Sprachen werden in der Schweiz immer mehr zum Zankapfel. Französisch- und Italienischsprachige lehnen sich dagegen auf, dass Deutschsprachige vermehrt das Englische vorziehen. Doch die Wirklichkeit ist komplizierter als der Augenschein.
Die Aussicht, dass Englisch auf Kosten von Französisch und Italienisch zur eidgenössischen Umgangssprache werden könnte, provoziert zunehmend und regelmässig politische und mediale Debatten. Immer wieder wiederholen die sprachlichen Minderheiten, dass dabei die nationale Kohäsion auf dem Spiel stehe.
Diese Glut glimmt schon seit Jahren unter der Asche. Von Neuem angefacht wurde sie 1999 durch den Zürcher Entscheid, in der Primarschule Französisch auf Kosten von Englisch zur zweiten Fremdsprache herab zu stufen. Dieser Schritt ist seither in fast allen Deutschschweizer Kantonen nachvollzogen worden.
Heute wird Französisch von den 17 deutschsprachigen Kantonen nur noch in Baselland, Baselstadt und Solothurn als Erst-Fremdsprache geführt. Alle anderen Kantone ziehen inzwischen das Englische vor.
Nicht die gesamte Wirtschaft spricht Englisch
Das Bevorzugen des Englischen geht auf den Druck der globalisierten Wirtschaft zurück. Die dominante Verkehrssprache, also die «Lingua franca» der grossen Schweizer Unternehmen ist de facto Englisch.
Bei genauerer Betrachtung jedoch zeigt sich die helvetische sprachliche Wirklichkeit vielfältiger als es Statistiken und Statements von Führungskräften suggerieren. Obschon sich das Englische ausbreitet, «scheinen sich die Ängste, dass es die Wirtschaft völlig dominieren wird, zum heutigen Zeitpunkt nicht zu bestätigen», sagt Raphael Berthele, Professor am Institut für Mehrsprachigkeit der Uni Freiburg, gegenüber swissinfo.ch.
Die Durchdringung durch das Englische variiere stark je nach Branche, sagt Berthele, der kürzlich innerhalb des internationalen Projekts «Language Rich Europe» (LRE) eine Studie zur Situation in der Schweiz abgeschlossen hat.
Zwar drückten sich in Grossunternehmen die Führungsspitzen auf Englisch aus, doch innerhalb der Unternehmen selbst würden viele Sprachen gesprochen. Oft ergäben sich gemischte Arbeitsgruppen aus Leuten mit unterschiedlichen Muttersprachen, die untereinander gemischtsprachig kommunizieren», sagt Georges Lüdi, Professor an der Uni Basel, der eine Studie zu den Wirtschaftssprachen in der Schweiz durchgeführt hat. Ohne die vielen mittelständischen Unternehmen zu erwähnen, wo immer noch eine Sprache, nämlich die ortsgängige, benutzt werde.
«Statistiken indizieren einen Rückgang der Schüler, die sich in der Primarschule für Französisch entscheiden. Wir verfügen aber nicht über präzise Angaben zur wirklichen Sprachkompetenz der Leute», sagt Lüdi, der bereits zahlreiche Arbeiten zur Mehrsprachigkeit publiziert hat. Es bräuchte weitergehende Studien über die Sprachen, die am Arbeitsplatz genutzt werden.
Nicht nur dank der Weiterbildung lernen viele Leute neue Sprachen. Auch würden zunehmend Sprachen gesprochen oder zumindest verstanden, ohne dass man sie in der Schule erlernt hätte, so Lüdi.
Englisch immer präsenter an Hochschulen
Stark im Vormarsch ist das Englische an Universitäten und Polytechnischen Hochschulen, «besonders im Bereich der Forschung, beim Master oder den Doktoraten», sagt Berthele. «Fragt sich, ob dies als Problem empfunden wird oder nicht. Und das hängt eben von der Wahrnehmung des Einzelnen ab.»
Lüdi zum Beispiel empfindet es als ein Problem: «Innerhalb jeder Sprache unterscheiden sich auch die Konzeptionen und die Art, wie jemand denkt und interpretiert. Die jeweilige Muttersprache ist sehr wichtig, um die Tiefen einer Wissenschaft auszuleuchten.» Deshalb fördere der Schweizer National-Fonds im Bereich der wissenschaftlichen Forschung eine mehrsprachige Wissenschaft. «Es ist wichtig, Englisch, aber auch andere Sprachen zu beherrschen.»
Italienisch: Nicht mehr sexy, aber noch vital
Italienisch gehört immer weniger dazu. Die Erosion der dritten Landessprache in den jeweils anderen Landesteilen ist nicht aufzuhalten. Das Italienische verliert auch gegenüber anderen Migrantensprachen an Boden, vor allem gegenüber dem Spanischen. Dieser Prozess zeigt sich nicht nur im Schulbetrieb, sondern in allen Bereichen, die vom LRE untersucht worden sind.
Teilweise hat diese Entwicklung mit der Umkehr der italienischen Auswanderungsbewegung zu tun. Noch 1960 betrug der Anteil der Italienischsprachigen innerhalb der ausländischen Bevölkerung 54%. Im Jahr 2000 betrug dieser Anteil noch 14,8% (neueste erhältliche Zahlen).
Früher genoss die italienische Kultur auch ein viel grösseres Prestige, zum Beispiel im Filmbereich oder der Musik. Heute erscheine die lateinamerikanische Kultur attraktiver, sagt Berthele.
Von der geografischen Karte der Schweiz werde das Italienische jedoch kaum verschwinden, dafür sei seine Vitalität zu gross. Ausserdem zeige sich, dass von der Italienischen Schweiz die grösste Integrationskraft ausgehe. In der Südschweiz lebe der grösste Anteil an Leuten mit anderer Muttersprache, die inzwischen Italienisch auch zu Hause sprechen, so der Experte. «Andererseits zeigen die Italienischsprachigen in der Deutschschweiz viel weniger Bereitschaft, das Deutsche oder den Dialekt als Familiensprache anzunehmen.»
Mehrsprachigkeit stärkt Wettbewerb
Insgesamt verfügt die Schweiz mit ihren vier Landessprachen und den vielen Migrantensprachen über eine beneidenswerte Sprachenvielfalt. Wenn sie damit weise umgeht, könnte sich dieser Sprachbestand als ein Instrument der Kohäsion und des Wohlstands erweisen. Dazu bräuchte es jedoch den Willen zur einer Mehrsprachen-Strategie.
Einen Anreiz dazu gäbe das Language Rich Europe-Projekt. Aufgegleist und koordiniert wird es vom British Council, einer international tätigen Organisation im Bildungs- und Kulturbereich. LRE soll die Mehrsprachen-Praxis in der Politik in Europa entwickeln und verbessern.
Die LRE-Studie bringe eine neue Dimension ins Ganze, so Lüdi, nämlich die «Auseinandersetzung zwischen Regionen und Ländern». Es handle sich um die erste vollständige transnationale Untersuchung über Politik und Praxis der Mehrsprachigkeit in Europa, präzisiert Verio Pini, Berater der Bundeskanzlei in Sachen Mehrsprachigkeit in Bern.
Mit der zunehmenden Globalisierung und Migration stehe die Kenntnis mehrerer Sprachen für bessere Leistung, interkulturelle Verständigung und soziale Kohäsion, sagt David Sorrentino vom British Council. Und Pini zitiert zum Thema Johann Wolfgang Goethe: «Wer fremde Sprachen nicht kennt, weisse nichts von seiner eigenen.»
Gemäss der jüngsten Volkszählung aus dem Jahr 2000 sprechen 63,7% deutsch, 20,4% französisch, 6,5% italienisch, 0,5% romanisch und 9% andere Sprachen.
Das Projekt «Language Rich Europe» (wörtlich: das sprachenreiche Europa) untersucht und vergleicht Politik und Praxis bezüglich der Nationalsprachen, Fremdsprachen und Sprachen von Minderheiten oder Migranten in 18 europäischen Ländern, darunter der Schweiz.
In jedem Land haben Wissenschaftler zwischen April 2011 und April 2012 Daten ermittelt, die über alle Schulstufen hinweg das Sprachlernen, die Sprachenpraxis in den Medien, Unternehmen, Behörden und öffentlichen Bereichen, offiziellen Dokumenten und Datenbanken betreffen. Nach eingehender Analyse ist daraus ein Bericht publiziert worden.
Der Erstbericht ist im Mai veröffentlicht worden. Das erste Land, in dem er vorgestellt und in Fachkreisen diskutiert wurde, war die Schweiz (23. Mai in der Uni Bern). Die Vorstellungen der Berichte anderer Länder wird Ende Juni abgeschlossen sein.
Im kommenden Dezember soll die erste Fachkonferenz in London stattfinden. Bis dann werden auch die Resultate publiziert sein. Im März 2013 folgt die Schlusskonferenz in Brüssel, wo auch die Empfehlungen an die entsprechenden EU-Institutionen abgegeben werden.
Im Bereich der Mehrsprachigkeit in der Schweiz ist im Mai eine neue Initiative bekannt geworden: Das «Forum für sprachkulturelle Verständigung» des Vereins Forum Helveticum (FH).
Dieses FH-Kompetenzzentrum bietet Dienstleistungen im sprachkulturellen Bereich an, wie Monitoring, Information, Beratung, konkrete Massnahmen. Meist werden die Projekte in Zusammenarbeit mit Partnern realisiert.
Das FH selbst widmet sich seit 1996 immer mehr der Verständigung zwischen den Sprachregionen und der nationalen Kohäsion.
Das erste Dossier wird Mitte Juni aufgeschaltet und widmet sich einem «Bundesrat, der die kulturellen und sprachlichen Unterschiede des Landes besser repräsentiert».
(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)
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