Stadt-Land, der Graben, der die Schweiz entzweit
Die Kluft zwischen Stadt und Land hat jene zwischen den Sprachen abgelöst, wenn es darum geht, den Ausgang von Volksabstimmungen zu erklären. Die politische Aufwertung der Städte lässt den Graben noch tiefer werden.
Wie es sein Name vermuten lässt, ist Philipp Freimann ein «freier Mann»: Frei und widerspenstig. Hätte er sich nicht geweigert, sein Land dem «Immobilienwahn» zu opfern, der die Stadt Zug befallen hat, könnte sich der 36-jährige Bauer in den vorzeitigen Ruhestand an einen Platz an der Sonne begeben.
Seine als Bauland deklarierten Mais- und Kartoffelfelder hätten ihm fast 2000 Franken pro Quadratmeter oder insgesamt 30 Millionen Franken eingetragen. Die vom Schweizer Fernsehen verbreitete Geschichte hat über die Landesgrenzen hinaus von sich reden gemacht und wurde sogar vom britischen Guardian und von der deutschen Zeit aufgegriffen.
Philipp Freimann wurde in diesen Medien als moderner Wilhelm Tell dargestellt, der als Einzelkämpfer der ländlichen Schweiz seine Interessen und sein Land gegen das Vorrücken der urbanen Zonen verteidigt.
Der romantisch gefärbte Widerstandskampf von Philipp Freimann ist mehr als eine Anekdote. Er widerspiegelt auch ein gewisses politisches Klima. Am 30. August, am Schweizer Städtetag, sagte Andreas Rickenbacher, Regierungsrat des Kantons Bern, dass der Graben zwischen Stadt und Land gegenwärtig der wichtigste politische Konflikt in der Schweiz sei.
Wachsender Graben
Der Politologe Claude Longchamp, Direktor des Meinungsforschungsinstituts gfs.bern, teilt diese Einschätzung: «Alle Studien der letzten Jahre kommen zum Schluss, dass sich die Kluft zwischen Stadt und Land vergrössert. Es ist tatsächlich der bedeutendste politische Konflikt und er wird noch zunehmen.»
Laut Longchamps ist das Phänomen im Lauf der letzten 25 Jahre aufgetaucht und hat seinen vorläufigen Höhepunkt 2011 mit der Ablehnung der Volksinitiative «Für den Schutz vor Waffengewalt» erreicht.
Im Klassement der Abstimmungen, welche die ländlichen Gemeinden am meisten von den städtischen trennten, folgten jene über die Mitgliedschaft der Schweiz in der UNO (2002), die Einführung des Mutterschaftsurlaubs (2002), Anschluss an den EWR (1992), das Abkommen von Schengen-Dublin (2005) sowie eine Revision des Arbeitsgesetzes (2006).
«Die Themen, die mit einer Öffnung der Schweiz verbunden sind, sind sehr anfällig für diese Kluft», sagt Longchamp. «Anders als die ländliche Schweiz sind die Städte seit den 1990er-Jahren stark von der globalen Wirtschaft abhängig geworden. Aber der Graben ist mehr und mehr auch von unterschiedlichen Werten geprägt: Das Bevölkerungswachstum hat zu einem rapiden gesellschaftlichen Wandel in den urbanen Zentren geführt, während die Peripherie an die Traditionen gebunden blieb.»
Eine grosse Agglomeration
Diese dichotomische Sicht eines mutmasslichen eisernen Vorhangs zwischen den Stadtbewohnern mit postmodernen Affinitäten und den im Traditionalismus verbliebenen Landbewohnern überzeugt Georg Lutz, den Verantwortlichen der «Schweizer Wahlstudie – Selects», nicht wirklich.
«Natürlich sind die ländlichen Regionen generell konservativer. Aber die idyllische Sicht vom Land mit seinen kleinen, von lauter Bauern bewohnten Dörfern ist veraltet. Zwischen dem Genfer- und dem Bodensee ist die Schweiz zu einer grossen Agglomeration geworden.»
Laut Bundesamt für Statistik (BFS) leben heute 40% der Bevölkerung weder in Städten noch auf dem Land, sondern in urbanen Zonen, wo sich hauptsächlich Eigenheime ausbreiten. «Es handelt sich um Personen der Mittelklasse, die sich ein Haus kaufen können und die Nähe zur Natur suchen. Aber in Abstimmungen neigen sie dazu, konservative Vorlagen zu unterstützen. In diesen Gemeinden hat die SVP übrigens ihre grössten Erfolge verzeichnet», sagt Georg Lutz.
In ihrer Rede am Städtetag hat die Historikerin und Journalistin Joëlle Kuntz dem Wettstreit zwischen Stadt und Land ein Ende nahegelegt. Stadt und Land seien zunehmend kulturell verschmolzen und die Unterschiede lösten sich auf.
«Landbewohner, Bergler und Städter schauen sich die gleichen Fernsehsendungen an, kaufen in den gleichen Geschäften ein, gehen in die gleichen Schulen und machen die gleichen Reisen, nach Indien oder Bali. Sie träumen von den gleichen sozialen Erfolgen.»
«Unterschiedliche Interessen»
Was die Haushalte in der Schweiz unter dem Strich entzweie, seien die divergierenden Interessen, ob sie landwirtschaftlicher, touristischer, energetischer, sozialer, industrieller oder finanzieller Natur seien, sagt Joëlle Kuntz.
Genau aus diesen Gründen, aber auch infolge des höheren politischen Stellenwerts der Städte, hat sich laut Georg Lutz in den letzten Jahren vor allem das Gefühl eines Konflikts zwischen Stadt und Land zugespitzt.
«Die eidgenössische Politik basierte lange Zeit einzig auf der Unterstützung der peripheren Regionen», sagt er. Die städtischen Zentren, die sich immer mehr als Wirtschaftsmotor behaupten, beklagen sich, dass ihnen immer mehr Lasten auferlegt würden, von denen auch die Peripherie profitiere, insbesondere was die Infrastruktur für die Mobilität und das kulturelle Angebot betreffe.
In der Praxis kommt dies durch die Forderung der Städte nach einer Änderung des Finanzausgleichs (Umverteilung der finanziellen Mittel unter verschiedenen institutionellen Ebenen des Staats) und der Finanzierung der Infrastruktur zum Ausdruck. Diese Forderungen beunruhigen die peripheren Regionen, obwohl diese auf politischer Ebene insbesondere durch das historisch bedingte grosse Gewicht des Ständerats (Kantonsvertreter) übervertreten sind.
«Bis in die 1990er-Jahre haben praktisch nur die ländlichen Regionen die Identität und die Interessen der Schweiz bestimmt», sagt Claude Longchamp. «Heute macht die Widerherstellung des Gleichgewichts dem Land Angst. Es befürchtet, von den urbanen Zentren dominiert zu werden und die finanziellen Mittel der Eidgenossenschaft an die Städte zu verlieren.»
Laut Bundesamt für Statistik hat die Ausdehnung der grossen Agglomerationen zu 5 Metropolräumen in der Schweiz geführt: Zürich, Basel, Genf-Lausanne, Bern und Tessin.
Gemäss einer Studie des Forschungsinstituts BAK Basel, die am 30. August zum 115. Geburtstag des Städteverbands erschienen ist, beheimatet die urbane Schweiz 74% der Bevölkerung und generiert 84% des BIP.
Das politische Gewicht der Städte entspricht nicht der wirtschaftlichen und demografischen Bedeutung.
Im Ständerat (kleine Parlamentskammer), wo jeder Kanton über zwei Stimmen verfügt, und bei Abstimmungen über Volksinitiativen, die ein Volks- und Ständemehr bedingen, hatte die politische Stimme eines Urners im Vergleich zu jener eines Zürchers 1850 das 17fache Gewicht. Heute ist es sogar mehr als das 34fache.
Was ist eigentlich mit dem Röstigraben los, der Kluft zwischen den Sprachen, die seit der legendären Abstimmung über den Beitritt der Schweiz zum europäischen Wirtschaftsraum (EWR) seit 1992 als Analyse-Muster verwendet wird, um die Antagonismen in der Eidgenossenschaft zu erklären.
«Der Graben wurde in den letzten Jahren sehr relativiert, aber er ist nicht ganz verschwunden», sagt Claude Longchamp. «Er zeigt sich noch bei Abstimmungen über den Sozialstaat, wie zum Beispiel bei der Verschärfung des Arbeitslosengesetzes oder bei der Kürzung der Renten der Zweiten Säule der beruflichen Vorsorgeversicherung.»
Wenn man heute weniger vom Röstigraben spricht, sagt Georg Lutz, bedeute dies nicht unbedingt, dass es ihn nicht mehr gebe. «Es ist eine Folge des Erfolgs der SVP in der Romandie in den letzten zehn Jahren.
Als 20% der frankophonen Stimmbürger die SVP wählten, liess sich der Diskurs von der Westschweizer Ausnahme nicht mehr aufrecht erhalten.»
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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