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«Auch die Schweiz ist ein Entwicklungsland»

Swissinfo Redaktion

Nora Wilhelm hat mit 26 Jahren schon einiges erreicht: Sie wurde unter anderem von der Unesco für ihre Arbeit als "Young Leader" ausgezeichnet und von der Zeitschrift "annabelle" zu einer von 80 Schweizermacherinnen ernannt. An der diesjährigen Jahreskonferenz der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit hielt sie dem Land den Spiegel vor – und präsentierte Lösungsansätze. Ihre Rede in einer gekürzten Fassung.

Ich bin in Genf aufgewachsen und war früh von den Visionen der “Genève internationale” inspiriert. Die Schweiz ist ein Land mit einer langen humanitären Tradition. Unsere umgekehrte Flagge steht dafür, niemandem die Hilfe zu verweigern, dorthin zu gehen, wo es nötig ist. Auch ich wollte diesem Weg folgen, wollte mich engagieren – den Blick nach Aussen gerichtet – und fragte mich gleichzeitig: «Wer bin ich, und lebe ich in Integrität mit meinen Werten im Alltag, hier in der Schweiz?»

«Es geht nicht in erster Linie darum, zu bekämpfen, was nicht gut ist.»

Mit der Agenda 2030Externer Link kam ein Paradigmenwechsel in die internationale Zusammenarbeit. Zum ersten Mal haben wir eine globale Vision, gemeinsame Ziele, die viele Themen abdecken und für alle Länder gelten. Zu oft denken wir bei dem Konzept «Entwicklung» noch linearExterner Link, so als gäbe es eine klare, aufsteigende Linie mit dem Ziel, ein Land wie zum Beispiel die Schweiz zu werden. Doch wie steht es um die Integrität der Schweizerinnen und Schweizer?

swissinfo.ch öffnet seine Spalten für ausgewählte Gastbeiträge. Wir werden regelmässig Texte von Experten, Entscheidungsträgern und Beobachtern publizieren. Ziel ist es, eigenständige Standpunkte zu Schweizer Themen oder zu Themen, welche die Schweiz interessieren, zu publizieren und so zu einer lebendigen Debatte beizutragen.

Die Agenda 2030 ist nicht makellos, aber sie steht für einen neuen Ansatz. Jedes Land, auch die Schweiz, ist ein Entwicklungsland. Und wie schneidet sie ab? Nur bei zwei von 17 Zielen für eine nachhaltige Entwicklung steht die Ampel im SDG Dashboard für die SchweizExterner Link auf Grün. Der Rest ist Gelb, Orange oder gar Rot.

Werte und Handeln stimmen nicht überein

Saubere Seen, wunderschöne Berglandschaften, ein herausragendes öffentliches Verkehrsnetz. Die idyllische Schweiz? Unser Land exportiert den grössten Teil seiner Umweltauswirkungen ins Ausland, ist sogar Weltmeisterin darin (Spillover-IndexExterner Link). Würden alle Menschen leben wie die Schweizer und Schweizerinnen, wären drei ErdenExterner Link notwendig.

In dieser globalisierten und komplexen Welt können wir unsere Realität nicht mehr als getrennt von der Realität der Anderen sehen.

Wir werden nicht unbedingt die Ersten sein, die vor Dürre oder Flut flüchten müssen. Wir versprechen gerne humanitäre bzw. «Entwicklungshilfe», um solche Konsequenzen zu lindern, sind aber mitverantwortlich für deren Ursache. Eine typische kognitive Dissonanz: Unser Denken, und das, was wir für richtig halten, stimmt nicht überein mit unserem Handeln.

Für mich ist es eine Frage der Integrität. In der Menschheitsgeschichte gab es immer wieder moralische RevolutionenExterner Link – plötzlich sind Dinge undenkbar, die zuvor normal waren, wie zum Beispiel Kinderarbeit oder eine Welt ohne Frauenstimmrecht. Heute sind wir wieder an so einem Punkt. In einigen Jahren werden wir uns fragen, wie es jemals in Ordnung sein konnte, dass wir unser heutiges System einfach akzeptiert haben.

Welche Art von Glück will die Schweiz?

Es gilt auch, sich die Frage zu stellen, ob wir unser Potenzial für ein gutes Leben ausschöpfen. Wird Glück allein definiert über Wohlstand, Stabilität und Sicherheit? 25% der Arbeitnehmenden in der Schweiz sind erschöpft. Bei der Familienfreundlichkeit klassifizierte uns UNICEF als die letzten in Europa. Mehr als 35% der Schweizer Bevölkerung ab 15 Jahre fühlen sich isoliert. Wir sind besser vernetzt denn je – und doch wird unser soziales Netz schwächer. Menschlich fühlen wir uns immer weniger verbunden.

Anders leben bedeutet nicht unbedingt Verzicht, sondern vielleicht mehr Gesundheit und Freude. Wie sieht die Schweiz aus, in der wir leben wollen? Wir brauchen eine positive Vision für eine andere Zukunft, mehr Fokus auf das Potenzial für positive Veränderung als auf Negatives.

Symptombekämpfung reicht nicht mehr

Wie kommt es, dass wir laufend Resultate kreieren, die keiner willExterner Link? Niemand will ernsthaft, dass die Gletscher schmelzen. Niemand will, dass Menschen sterben, damit wir schöne Kleider haben. Und dennoch passiert genau dies.

Es braucht einen Systemwandel. Es reicht nicht mehr, links und rechts etwas zu optimieren. Wenn wir die Ziele der Agenda 2030 erreichen wollen, müssen wir die Phase der Symptombekämpfung überwinden und die tatsächlichen Ursachen der heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen verstehen und angehen. Dafür müssen wir auf eine neue Art und Weise zusammenarbeiten.

Potenzial des partizipativen Ansatzes nutzen

Die Schweiz hat eine lange Tradition des Dialogs und der Zusammenarbeit über Sprach- und Religionsgrenzen hinweg. Wenn wir dieses einzigartige Potenzial nutzen, können wir über eine Transformation bei uns Zuhause auch auf der Welt einen Unterschied machen.

Dazu müssen wir bei uns selbst anfangen, als Individuen, als Gesellschaft, als Land. Die Schweiz hat das einzigartige Potenzial, mit partizipativen Ansätzen zur Implementierung der Agenda 2030 im Inneren wie im Äusseren beizutragen.

Es geht darum, besser zusammenarbeiten und gänzlich neu denken zu lernen – sich für eine bessere Alternative einzusetzen und nicht in erster Linie zu bekämpfen, was nicht gut ist. Nur so kann Wandel gelingen.

Die Schweiz braucht Mut, um ihre kognitiven Dissonanzen zu erkennen und notwendige Änderungen vorzunehmen. Mut, Fehler einzugestehen und Neues auszuprobieren. Mut, für Werte und eine Vision einzustehen – für eine Schweiz, geprägt von ökologischer Verantwortung, Menschlichkeit und Gemeinwohl. Für die Schweiz von morgen.

ist 1993 gebpren und Mitbegründerin der Initiative Collaboratio Helvetica, die sich für die Umsetzung der Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030) in der Schweiz einsetzt. Ihre Leidenschaft gilt der Aktivierung des Potenzials von Menschen und Organisationen.

Sie ist Gründungsmitglied von Cohort 2030 und war Mitglied des Europäischen Jugendparlaments, das sie in der Schweiz von 2014 bis 2015 präsidierte. Wilhelm studierte in Genf und St. Gallen internationale Beziehungen.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene der Autorin und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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