«Sozialdetektive-Gesetz öffnet Interpretation Tür und Tor»
Ein neues Gesetz soll es Sozialversicherungen erlauben, Versicherte mit Hilfe von Sozialdetektiven auszuspionieren. Das Gesetz sei schlecht formuliert, die Grenzen und Anforderungen für eine Observation unklar, findet SP-Nationalrätin Silvia Schenker. Deshalb gehöre die Vorlage zurück an den Absender, also ans Parlament, geschickt.
Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte und in der Folge das Bundesgericht haben festgestellt, dass sowohl im schweizerischen Unfallversicherungsgesetz als auch im Invalidengesetz keine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Observation von Versicherten vorhanden ist. Daraufhin mussten die Observationen eingestellt werden.
Im Schnellzugstempo hat das Parlament eine neue gesetzliche Grundlage geschaffen. Das Tempo, aber auch der Druck durch die Versicherungslobby, haben der Qualität der Vorlage massiv geschadet. Das Gesetz ist sehr schlecht formuliert. Statt der notwendigen gesetzlichen Klarheit, wurden Formulierungen gewählt, die der Interpretation Tür und Tor öffnen.
Wortlaut verbietet Aufnahmen in privaten Räumen nicht
In erster Linie gilt das für die Bestimmung, die definieren soll, wo die Versicherten observiert werden können. Gemäss Wortlaut des Gesetzes ist dies nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch an Orten möglich, die von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar sind.
Seit Wochen wird darüber gestritten, ob damit auch Aufnahmen in private Räume möglich sind. Eine stattliche Zahl von Rechtsgelehrten ist sich einig: Der Wortlaut der Bestimmung verbietet dies nicht eindeutig.
Standpunkt
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Wie dereinst die Gerichte in dieser Frage entscheiden, kann niemand sagen. Eines ist aber klar: Der Gesetzgeber hat ganz bewusst diese Formulierung gewählt. Wenn er den Ort der Observation hätte einschränken wollen, hätte er es tun müssen.
Besonders störend ist die Tatsache, dass Versicherungen selber entscheiden, wer observiert werden soll. Versicherungen sind bei allfälligen Streitigkeiten Partei und keine neutrale. Dass sie allein und ohne Konsultation von unabhängigen Personen darüber entscheiden dürfen, ob Versicherte observiert werden, verstösst gegen rechtsstaatliche Prinzipien. Nicht einmal die Polizei hat so viel eigenständige Kompetenzen.
Es muss festgehalten werden, dass Observationen ein starker Eingriff in die Privatsphäre sind. Es bedeutet, dass jemandem systematisch gefolgt und jemand systematisch beobachtet wird, und dass von ihm (und allfälligen unbeteiligten Dritten) Bild- und Tonaufnahmen gemacht werden. Unsere Privatsphäre ist aber durch die Verfassung sowie die Europäische Menschenrechtskonvention geschützt. Es muss sehr gut abgewogen werden, wann und wie dieser Schutz nicht mehr gilt. Diese Sorgfalt ist in unser aller Interesse.
Ein Drittel aller Observationen zu Unrecht durchgeführt
Im Abstimmungskampf ist häufig zu hören, dass nur diejenigen etwas zu befürchten haben, die unehrlich sind und etwas verbergen wollen. Das würde dann zutreffen, wenn jede Observation einen Betrug zu Tage fördern würde. Das ist aber nicht der Fall.
Im Jahr 2016 wurde ein Drittel aller Observationen, welche durch die IV gemacht wurden, zu Unrecht durchgeführt. Damit wurde in 90 Fällen Personen über einen längeren Zeitraum observiert, es wurde Filmmaterial erstellt und Gespräche wurden aufgenommen. Es wurde also tief in die Privatsphäre hinein geschnüffelt und spioniert. Und dies zu Unrecht.
Wer jetzt meint, dies betreffe ihn sicher nicht, weil er oder sie keine IV-Rente beziehe und keine Leistungen der Unfallversicherung, der täuscht sich. Gemäss der neuen Gesetzesbestimmung können sämtliche Sozialversicherungen selbstständig Observationen durchführen oder durchführen lassen: also auch die Arbeitslosenversicherung, die Ergänzungsleistungen oder ihre Krankenkasse.
Gesetzliche Grundlagen müssen stichfest sein
Missbrauch gehört aufgedeckt und hart bestraft. Das wird von niemandem bestritten. Auch nicht von den GegnerInnen der Vorlage. Jedoch muss die gesetzliche Grundlage für allfällige Observationen hieb und stichfest sein. Es bestehen sehr starke Zweifel, dass der vorliegende Gesetzestext den Kriterien genügen würde, die der europäische Gerichtshof für Menschenrechte vorgegeben hat. Somit ist nicht auszuschliessen, dass die Schweiz für den gleichen Sachverhalt erneut gerügt werden könnte. Das wäre ein Armutszeugnis für unser Parlament.
Wenn das Parlament Observation von Versicherten zulassen will, dann müssen die Grenzen und Anforderungen klar und eindeutig definiert sein. Das sind sie in dieser Vorlage nicht.
Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene der Autorin und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.
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