Darf man Naturforscher Louis Agassiz mit Hitler vergleichen?
Seine Erkenntnisse in der Gletscherforschung sind unbestritten. Doch der schweizerisch-amerikanische Harvard-Professor Louis Agassiz war auch überzeugter Rassist. Höchste Zeit für einige Korrekturen, schliesslich seien auch alle Hitler-Strassen umbenannt worden, schreibt der St. Galler Historiker Hans Fässler im Gastbeitrag.
Man sollte das Agassizhorn nicht umbenennen, weil wir heutigen Menschen uns nicht anmassen sollten, über Menschen zu urteilen, die früher gelebt hätten. Ausserdem sei Agassiz das Agassizhorn gewidmet worden, weil er ein berühmter Gletscherforscher gewesen ist. Man dürfe den Rassismus von Louis Agassiz nicht verdammen, weil diese Einstellung damals normal gewesen ist.
Und schliesslich sei es falsch, das Gedenken an einen Menschen auslöschen zu wollen: Dass ein Berg den Namen eines Rassisten trägt, gehöre eben auch zu unserer Geschichte. Solche Stimmen haben wir im Verlauf unserer Kampagne «Démonter Louis Agassiz»Externer Link zur Genüge gehört.
Hätte man diesen Argumenten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überall Glauben geschenkt, gäbe es heute immer noch die Stadt «Stalingrad» sowie Hunderte von Hitler-Strassen, Hitler-Plätzen, Goebbels-Strassen, Göring-Strassen und Horst-Wessel-Strassen. In München gäbe es immer noch die Von-Trotha-Strasse, benannt nach dem Kommandanten des ersten Genozids des 20. Jahrhunderts, und die Wolayersee-Hütte in den Karnischen Alpen hiesse noch immer Eduard-Pichl-Hütte, nach dem österreichischen Bergsteiger, der als fanatischer Antisemit 1921 in seiner Alpenvereinssektion den Arier-Paragraphen durchsetzte.
Aber kann man den schweizerisch-amerikanischen Naturforscher Louis Agassiz (1807-1873) mit Hitler vergleichen? Wir haben in unserer erstmals 2012 in Grindelwald gezeigten Agassiz-Ausstellung auf einer Tafel zwölf Zitate aufgeführt und die Besucherinnen und Besucher aufgefordert herauszufinden, welches von Agassiz und welches von Hitler stammt. Kaum jemand hat es geschafft.
In derselben Ausstellung haben wir aufgezeigt, wie Agassiz zu den intellektuellen Wegbereitern der Nazi-Rassenhygiene wurde: Sein Denken lässt sich via «Hitler’s American teachers» (Grant, Davenport, Stoddard) bis zu den Rassehygienikern der Nazis («Baur, Fischer, Lenz», 1927) nachweisen. 1929 steht das so genannte Brasilienzitat in der Zeitschrift «Volk und Rasse», die von Otto Reche (nachmaliger «Apologet des Völkermordes in Osteuropa») und Bruno Schultz (nachmaliger Chef des Rassenamtes und führendes Mitglied der Waffen-SS) herausgegebenen wurde:
«Wer daran zweifelt, dass die Rassenmischung ein Übel ist und dazu neigt, aus missverstandener Menschenliebe alle Schranken zwischen den Rassen niederzureissen, der möge nach Brasilien kommen. Er kann den Niedergang einfach nicht leugnen, der auf die Verschmelzung der Rassen folgt…»
Agassiz teilte die Menschheit in Rassen ein und postulierte eine klare Rangordnung: Die «weisse Rasse» definierte er als überlegen und kulturschaffend, die «schwarze Rasse» war für ihn affenähnlich, zur Kultur unfähig und gehörte nicht zur selben Menschheit wie die weisse.
Er lehnte Rassenmischung kategorisch ab und sah diese als Ursache von kulturellem Abstieg. «Mischlinge» definierte er als minderwertig und wollte den Staat zur räumlichen Rassentrennung und zur Beschleunigung des Verschwindens der Mischlinge verpflichten.
«Einflussreicher Rassist»
Mit dieser Position hatte Agassiz entscheidenden Einfluss auf das Denken des faschistischen Dichters und Mussolini-Verehrers Ezra Pound und das Handeln von John Kasper, Ku-Klux-Klan-Mitglied und militanter Rassist im Kampf gegen das Civil Rights Movement. Der Literaturwissenschaftler Alec Marsh hat Agassiz 2015 denn auch den «einflussreichsten wissenschaftlichen Rassisten des 19. Jahrhunderts» genannt.
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So weit, so erschreckend. Trotzdem haben es alle von uns angegangenen Institutionen abgelehnt, den nach Agassiz benannten Gipfel nordwestlich des Finsteraarhorns in Rentyhorn umzubenennen, in Gedenken an jenen Sklaven, den Agassiz in South Carolina fotografieren liess, um die von ihm postulierte Minderwertigkeit der Schwarzen «wissenschaftlich» nachzuweisen.
Nein zur Umbenennung sagten: Bundesrat und Nationalrat, die Kantone Bern und Wallis, die Gemeinden Grindelwald, Guttannen und Fieschertal (die sich den Gipfel teilen) sowie die Unesco-Region Jungfrau-Aletsch.
Agassiz bleibt verewigt
Dass man eine Umbenennung vornehmen kann, ohne den Namen Agassiz vom Antlitz der Erde zu tilgen, hat eine Primarschule in Cambridge, Massachusetts, gezeigt. Sie war 1874 zu Ehren des Naturforschers, der in Harvard gewirkt hatte, «Agassiz School» getauft worden.
2002 beschloss die Schulkommission, die Schule umzubenennen, weil es für die vielen afro-amerikanischen Schülerinnen und Schüler nicht zumutbar sei, eine Schule zu besuchen, deren Namensgeber ihnen die Zugehörigkeit zur Menschheit abgesprochen hatte. Die Schule heisst heute «Maria L. Baldwin School», nach ihrer ersten schwarzen Schulleiterin.
Es verbleiben seither jedoch auf unserem Planeten noch über 60 nach Agassiz benannte Ortschaften, Strassen, Seen, Gletscher, Berge, Buchten und Tiere. Und nicht zu vergessen: ein Krater auf dem Mars und ein Kap auf dem Mond.
2014 wurde in Hessen die letzte «Wernher-von-Braun-Schule» Deutschlands umbenannt. Nach langer Debatte befand man, obwohl von Braun ein Pionier der Raumfahrt gewesen sei, sei er als NDSAP-Mitglied und Beteiligter an der Misshandlung von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern «kein geeignetes Vorbild» für die Schüler.
In solchen Bewusstwerdungs-Prozessen ist die Debatte um Verantwortung, um Schuld und Mitwissen bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit oft wichtiger als das Resultat. Die nächste Gelegenheit für eine solche Debatte bietet sich im Frühling 2017: Dann entscheidet die Hauptversammlung der SAC-Sektion St. Gallen über einen Antrag, Agassiz die 1865 verliehene SAC-Ehrenmitgliedschaft abzuerkennen.
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