Die Freiheit der Wahl angesichts grossen Leidens
Ein Jahr nach der Annahme des Verfassungsartikels, der den Weg für die Präimplantations-Diagnostik (PID) frei machte, kommt nun das Gesetz zur Umsetzung der neuen Regelung zur Abstimmung. Luc Recordon, ehemaliger grüner Ständerat, sagt, man müsse Ja sagen zur Möglichkeit der Wahl, die Eltern damit geboten wird.
Am 14. Juni 2015 wird die Grundlage für die PID in Artikel 119, Abschnitt 2 der Bundesverfassung festgelegt. Das Volk sagte mit 61,9% der Stimmen Ja, bei den Kantonen waren 18½ für die Vorlage, 4½ dagegen.
Ein Jahr später sind wir wieder an die Urnen gerufen, nachdem gegen das vom Parlament verabschiedete Gesetz zur Umsetzung dieses Beschlusses das Referendum ergriffen worden war. Bei dieser Abstimmung wird es nur die Mehrheit der Volksstimmen brauchen. Es ist wichtig, hier unsere Zustimmung zu bekräftigen.
Die Grundlage, die wir schufen, besteht darin, angesichts grossen Leidens die Freiheit der Wahl zu haben. Paare mit einer schweren Erbkrankheit, oder Paare, die auf natürlichem Weg keine Kinder zeugen können, sollen auf die genetische Analyse eines Embryos zurückgreifen können, der durch künstliche Befruchtung entstand, bevor dieser in den Uterus der Mutter eingepflanzt wird. Ziel ist, den Eltern zu ermöglichen, einen Embryo zu wählen, der kein schwerwiegend defektes Gen trägt. Damit müssen diese Tests nicht mehr erst nach mehreren Monaten Schwangerschaft gemacht werden, bevor entschieden werden kann, ob eine Schwangerschaft abgebrochen werden soll oder nicht.
Ein schwer behindertes Kind zu haben, oder darauf zu verzichten, ist ein sehr intimer Entscheid, den niemand anderes als die potentiellen Eltern fällen können. Es geht auch nicht, solche Frühdiagnosen zu verbieten und einer künftigen Mutter damit nur die Möglichkeit einer Abtreibung zu einem viel späteren Zeitpunkt einzuräumen.
Doch falls das Gesetz am 5. Juni 2016 nicht angenommen wird, werden diese hervorragenden Grundsätze noch lange toter Buchstabe bleiben. Erinnern wir uns daran, dass verschiedene Artikel der Bundesverfassung manchmal während Jahrzehnten nicht umgesetzt wurden, im Fall der Mutterschaftsversicherung etwa hatte es 50 Jahre gedauert!
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Und obschon das Gesetz etwas offener gehalten ist als die ursprüngliche Vorlage des Bundesrates, bleibt es sehr vorsichtig. Es wird weiterhin verboten – und strafbar – sein, Embryonen aufgrund ihres Geschlechts oder anderer, sekundärer körperlicher Aspekte wie Grösse, Augenfarbe oder Eigenschaft der Haare auszuwählen.
Die PID steht nur Paaren offen, die Träger einer schweren Erbkrankheit sind, oder die auf natürlichem Weg keine Kinder zeugen können und ernsthaft befürchten müssen, dass die Einnistung eines Embryos zu Problemen bei der Entwicklung oder zu einer Fehlgeburt führen könnte.Es dürfen auch keine «Retter-Babys» gezeugt werden, deren Stammzellen zur Behandlung einer schwer kranken Schwester oder eines schwer kranken Bruders genutzt würden. Und letztlich dürfen pro Behandlungszyklus höchstens 12 Embryonen entwickelt werden.
Dazu kommt, dass mit dem neuen System im Vergleich zur aktuell praktizierten Fortpflanzungsmedizin nicht nur viele problematische Schwangerschaften vermieden würden, sondern auch Zwillings- oder Drillingsschwangerschaften, die für die Gesundheit von Mutter und Kindern riskant sind.
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Die Hauptkritik auf Seite jener, die das Referendum ergriffen, dreht sich darum, dass Menschen mit einer Behinderung vermehrt marginalisiert würden, wenn ihre Zahl deutlich zurückgehen würde. Dies ist der Moment zu bekräftigen, dass es keinesfalls darum geht, Paare dazu zu drängen, kein behindertes Kind zu haben, sondern im Gegenteil darum, dass sie ihre Entscheidung in vollem Bewusstsein fällen können. Die Stimmenden begriffen das 2015, denn schon damals stand dieses Argument ganz oben auf der Liste der Gegner des Verfassungsartikels.
Zudem wird das Recht jedes Menschen, sein oder ihr Leben in Würde zu leben und auf die Solidarität der Gesellschaft zählen zu können, mit dem neuen Gesetz noch verstärkt. So wird eine professionelle Beratung für Paare eingeführt, vor allem für Fragen über die Häufigkeit und Schwere einer Krankheit, die Wahrscheinlichkeit, dass diese ausbrechen wird, wie man sie bekämpfen kann, wie das Leben eines Kindes mit der Krankheit verlaufen kann und – last but not least – für Informationen über Elternvereinigungen von Kindern mit einer Behinderung, über Selbsthilfe-Gruppen sowie wie weitere Informations- und Beratungsdienste.
Angesichts dieses ausgewogenen Gesetzestextes, der viel Leiden verhindern wird, das ich aus persönlicher Erfahrung kenne, und das Paare mit einem Risiko nicht mehr dazu zwingen wird, für eine PID ins Ausland zu fahren, falls sie sich das überhaupt leisten können, habe ich im Parlament für dieses Gesetz gestimmt. Ich hoffe sehr, dass auch meine Mitbürgerinnen und Mitbürger dies tun werden.
Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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