Startschuss für Reform des Menschenrechts-Gerichts
Mit einer Konferenz in Interlaken will die Schweiz die Reform des chronisch überlasteten Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) voranbringen. Diesem Ziel erteilt sie in ihrer sechsmonatigen Präsidentschaft im Europarat höchste Priorität.
Fast 120’000 hängige Beschwerden waren es Ende 2009, und jeden Tag werden es mehr. Es müssen neue Wege zur Entlastung des EGMR gefunden werden.
An der Ministerkonferenz im Berner Oberland sollen die 47 Mitgliedsstaaten des Europarats in einer gemeinsamen Erklärung bekräftigen, dass sie das Überleben des Strassburger Gerichts mit wirksamen Massnahmen sichern wollen.
Appell an Europarat
Ende Januar hatte Micheline Calmy-Rey, die Vorsitzende des Ministerkomitees, vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Strassburg zu einer guten Zusammenarbeit aller Mitgliedstaaten aufgerufen.
«Der Reformprozess des Gerichtshofs braucht Zeit. Wir müssen jetzt beginnen und in Interlaken ein starkes politisches Signal senden», erklärte die Schweizer Aussenministerin.
Sie zeigte sich erleichtert, dass Russland als letztes Europaratsmitglied dem 14. Zusatzprotokoll der Menschenrechts-Konvention zugestimmt hatte. Die Richter könnten nun entlastet und die Verfahren beschleunigt werden.
Die Ratifizierung des Protokolls durch alle 47 Mitgliedsstaaten reiche aber bei weitem nicht aus, um die Herausforderungen zu meistern, so Calmy-Rey weiter. Deshalb brauche es die Konferenz in Interlaken.
Auch Giorgio Malinverni, einziger Schweizer Richter am EMRG in Strassburg, betont gegenüber swissinfo.ch, dass der Zustrom von Klagen dringend eingedämmt und die Effizienz des Gerichtshofs gesteigert werden müsse.
Wiederholungsfälle – ein Riesenproblem
«Das Gericht muss sich auf wichtige und gravierende Fälle konzentrieren. Wiederholungsfälle sollen nur noch von drei statt sieben Richtern behandelt werden. Zudem muss vermieden werden, dass solche Fälle ans Gericht gelangen», sagt Malinverni.
Als Beispiel für solche Wiederholungsfälle nennt Paul Widmer, der ständige Schweizer Botschafter in Strassburg, Beschwerden wegen Enteignung aus Polen, die nach bestimmten Mustern entschieden werden könnten.
Zu Wiederholungsfällen kommt es immer wieder, weil gewisse Länder mehrfach gerügte Missstände nicht beseitigen, also ihre Gesetzgebung und Praxis nicht anpassen.
Neue, noch nie dagewesene Problemfälle wie zum Beispiel jener zum Kruzifix im Klassenzimmer, wo Italien verurteilt wurde, müssen laut dem Botschafter nach wie vor von sieben Richtern oder der Grossen Kammer mit 17 Richtern behandelt werden.
Gericht für 800 Millionen Menschen
Um die Effizienz zu verbessern, schlägt Richter Malinverni weiter vor, dass die Zulassungsprüfung der Beschwerden von einer zusätzlichen, dem Gericht unterstellten Instanz abgeklärt wird. Ein neues Organ verursache aber auch Kosten. Deshalb habe dieser Vorschlag wohl wenig Chancen.
Unbestritten ist, dass die Individualbeschwerde bestehen bleiben muss. «Sie ist eine grosse Errungenschaft in Europa. Bürgerinnen und Bürger sollen weiterhin an dieses Gericht gelangen können», sagt Botschafter Widmer.
Einen Grund für die Überlastung sieht er auch im zunehmenden Bekanntheitsgrad des Strassburger Gerichts. «Heute gelangen Leute an den Gerichtshof, die vor ein paar Jahren noch gar nicht wussten, dass es einen solchen gibt», erklärt er im Gespräch mit swissinfo.ch.
Dem Gericht fehlt es an Geld
Laut Stephan Breitenmoser, Professor für Europarecht an der Universität Basel, fehlt es dem EGMR vor allem an finanziellen Ressourcen. «Das Gericht muss mehr Mittel zur Verfügung haben.» Er kritisiert zudem, dass der Gerichtshof organisations-rechtlich dem Europarat unterstellt ist. «Als unabhängiges Gericht sollte es sich selber organisieren können.»
Für den Europarechts-Experten stellt die Konferenz im schweizerischen Interlaken «einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zur Stärkung des Gerichtshofes» dar. Und Botschafter Paul Widmer erhofft sich einen Startschuss für Vorschläge, die in sieben bis acht Jahren zum Tragen kommen und so die Zukunft des Gerichts sichern sollen.
Die Finanzierung des Gerichts sei in Interlaken kein Thema, erklärt Richter Malinverni, der in die Vorbereitung der Konferenz mit einbezogen war. Es würden auch keine Entscheidungen getroffen. Vielmehr gehe es darum, eine programmatische Deklaration zu verabschieden.
«Den zuständigen Organen des Europarats wird ein Mandat erteilt, um in absehbarer Zukunft Massnahmen zu treffen, die zur Effizienzsteigerung führen.»
Fortschritt dank gemeinsamer Werte
Der Schweizer Europarats-Parlamentarier Dick Marty, der sich seit Jahren für die Sache der Menschenrechte stark macht, sieht im EGMR die grösste Errungenschaft des Europarats. Mit seiner Rechtsprechung habe dieses Gericht dazu beigetragen, dass es auf dem europäischen Kontinent gemeinsame Werte gebe. Das sei wichtig für ein friedliches Zusammenleben.
«Es braucht diesen Gerichtshof. Denn ob eine Beschwerde aus Sibirien, Island oder Portugal kommt – sie wird nach denselben Werten beurteilt. Dies hat in Europa riesige Fortschritte gebracht», so Marty.
Gaby Ochsenbein, swissinfo.ch
Vom 18. bis 19. Februar 2010 treffen sich die Minister der 47 Mitgliedstaaten des Europarats in Interlaken zu einer Konferenz über die Zukunft des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg.
Die Konferenz wird von der Schweiz organisiert, die gegenwärtig den Vorsitz im Ministerkomitee des Europarats innehat.
Geleitet wird die Schweizer Delegation von Aussenministerin Micheline Calmy-Rey und Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf.
Ziel der Konferenz ist es, einen Reformprozess einzuleiten, um die wachsende Menge an Beschwerden zu bewältigen.
Zum Schluss der Konferenz sollen die Erklärung von Interlaken sowie ein Aktionsplan für Reformen verabschiedet werden.
Der 1959 gegründete Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg überprüft Verletzungen der Europäischen Menschenrechts-Konvention.
Der EGMR ist die letzte Instanz für die mehr als 800 Millionen Bürger der 47 Mitgliedstaaten des Europarats.
Jedes Mitglied verfügt über einen Richtersitz im EGMR.
Die offiziellen Sprachen sind Englisch und Französisch. Die Beschwerden können in den jeweiligen Landessprachen eingereicht werden.
Das Budget 2009 belief sich auf 56 Mio. Euro.
Der EGMR ist mit einer wachsenden Flut von Klagen konfrontiert: 2009 gingen über 57’000 Klagen ein, das sind 15% mehr als im Vorjahr. Der Pendenzenberg stieg auf 119’300.
Knapp 30% der Beschwerden stammen aus Russland, gefolgt von der Türkei.
Aus der Schweiz sind 471 Fälle hängig. Vier davon betreffen die Anti-Minarett-Initiative.
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