Steckt die Schweiz in einer Regierungskrise?
Finanzkrise, UBS-Affäre und vor allem Libyen: Selten war der Bundesrat mit einer Stimme zu hören. Indiskretionen, Rivalitäten dagegen schienen häufiger zu sein. Politbeobachter Oswald Sigg mag aber noch nicht von einer Regierungskrise sprechen.
«Rien ne va plus – Bundesrat ausser Rand und Band», titelte die Neue Zürcher Zeitung jüngst und kommentierte «den Zank im Bundesrat um Planspiele für eine Geiselbefreiung in Libyen».
Problematisch sei nicht, dass während der Libyen-Krise alle möglichen Optionen geprüft worden seien. Skandalös sei jedoch, dass solche Geheimpläne publik würden.
Wer für diese Indiskretionen verantwortlich sei, schädige die Reputation der Schweiz, und der Bundesrat müsse sofort eine Untersuchung einleiten, das Leck aufspüren und die Verantwortlichen «in die Wüste schicken».
Zu klären sei auch, wie Micheline Calmy-Rey und Hans-Rudolf Merz in der Libyen-Affäre miteinander – oder gegeneinander – agierten, schrieb die NZZ.
Indizien deuteten darauf hin, dass weitere Departemente in die Intrige involviert sein könnten. Der Eindruck verdichte sich, dass das Kollegialitätsprinzip im Bundesrat ausser Rand und Band geraten sei.
Bundespräsidentin Doris Leuthard erklärte zudem am Montag, der Gesamtbundesrat sei über den Befehl zum Libyen-Einsatz nicht informiert gewesen; laut Leuthard war ein solcher bereits gegeben, aber wieder zurückgezogen worden.
Die Geschäftsprüfer von National- und Ständerat hatten in ihrem Bericht zur Finanzkrise den Bundesrat aufgefordert, wieder als Team zu agieren. Er gelobte zwar Besserung, doch scheint die Landesregierung unverändert das Gegenteil zu tun.
Ex-Bundesratssprecher und –Vizekanzler Oswald Sigg sieht es nicht so dramatisch. Aber immerhin: «Wenn das Wetter schon nicht mitspielt, dann beschert uns wenigstens die Politik einen heissen Sommer», meint er im schriftlichen Interview mit swissinfo.ch.
swissinfo.ch: Haben wir in der Schweiz eine Regierungskrise?
Oswald Sigg: Nein. Uneinigkeit in der Regierung ist nicht abnormal. Der Bundesrat wird sich schon wieder finden.
swissinfo.ch: Ist das Kollegialitätsprinzip am Ende?
O.S.: Nein. Im Prinzip entscheidet der Bundesrat nach wie vor kollegial.
swissinfo.ch: Braucht es eine Regierungsreform – und wenn ja, welche?
O.S.: Nein, das braucht es nicht. 2011 sind Gesamterneuerungswahlen, dann kann das Parlament den Bundesrat nötigenfalls personell total reformieren.
swissinfo.ch: Die Schweiz wird im Ausland oft schwer wahrgenommen, weil das Amt des Bundespräsidenten jährlich wechselt. Brauchen wir ein präsidiales System?
O.S.: Es ist ein Märchen, dass das Ausland die Schweiz zu wenig wahrnimmt, nur weil die Bundespräsidentin lediglich ein Jahr lang im Amt bleibt. Frau Leuthard zum Beispiel ist als langjährige Schweizer Wirtschaftsministerin den ausländischen Regierungen wohlbekannt.
swissinfo.ch: A propos Rivalitäten zwischen Regierungsmitgliedern und Profilierungsdrang: Gab es das nicht auch früher schon, nur vielleicht mit weniger Medienecho?
O.S.: Tatsächlich, das gab es schon immer. Aber die manchmal übereifrige Suche der Medien nach Aufmerksamkeit durch einschlägige Schlagzeilen und einseitige Berichte – das ist eher neueren Datums.
swissinfo.ch: Fallen die Dispute in der Regierung heute nicht besonders auf, weil wir ja eigentlich an eine Konsens-, eine Kollegialregierung gewöhnt waren?
O.S.: Einen konsensualen Bundesrat gab es doch früher nur, wenn er in den Ferien war. Das hat wiederum den Medien nicht gepasst und sie haben dem Bundesrat vorgeworfen, er sei die ferienreichste Regierung in Europa. Jetzt sind die Ferientage des Bundesrats wirklich gezählt.
swissinfo.ch: Hat es heute weniger Teamplayer und mehr Alphatiere im Bundesrat? Ist es nicht so, dass Bundesrätinnen und Bundesräte halt generell nicht einfach «brave», konfliktscheue Personen, sondern eigenständige, profilierte Persönlichkeiten sind oder sein wollen?
O.S.: Mag sein. Aber dies zeigt nur, wie gross die Verantwortung des Parlaments in dieser Frage ist. Und zwar in doppelter Hinsicht: Das Parlament darf nur solche Kandidaten und Kandidatinnen in den Bundesrat wählen, die auch gut miteinander zusammen arbeiten können. Und das Parlament darf sich gegenüber dem Bundesrat nicht so aufführen, als wolle es ihm den Meister zeigen.
swissinfo.ch: Ein Vergleich mit anderen Ländern zeigt, dass es fast in allen Regierungen Knatsch, Rivalitäten und Indiskretionen gibt. Sind die Probleme bei uns nicht geringer Natur, «lächerlich» im Vergleich zum Ausland?
O.S.: Im Vergleich mit vielen Regierungen im Ausland sind unsere Probleme nicht lächerlich, aber doch eher provinziell. Und darüber sollten wir uns nicht beklagen.
Jean-Michel Berthoud, swissinfo.ch
(Das Interview wurde schriftlich geführt)
Strategie-Experte Albert Stahel von der Universität Zürich bezeichnet die Vorgänge rund um die Pläne für eine Geiselbefreiung in Libyen als «sehr heikel». Wenn tatsächlich ein Einsatzbefehl erteilt worden sei, ohne dass der Gesamtbundesrat dies entschieden habe, «ist das fast eine Staatskrise», sagte er am Montag.
Ein solcher Entscheid müsse zwingend vom Gesamtbundesrat gefällt werden. Sei die Gesamtregierung nicht involviert gewesen, verletze dies die Verfassung. Offenbar sei nicht mehr klar gewesen, wer was zu entscheiden habe. Dies sei sehr gefährlich.
Militär- und Geheimdienst-Experte Stahel beurteilt die ganze Situation als «ziemlich ausserordentlich». In der Vergangenheit habe es auch schon Überlegungen für Aktionen im Ausland gegeben, doch sei es bei «Papierarbeit» geblieben.
Oswald Sigg, geboren in Zürich 1944, war während seiner 30-jährigen Berufslaufbahn Sprecher von insgesamt fünf Bundesräten: Den drei Sozialdemokraten Willy Ritschard, Otto Stich und Moritz Leuenberger sowie den beiden Vertretern der Schweizerischen Volkspartei (SVP) Adolf Ogi und Samuel Schmid.
Ab 2005 und bis zu seiner Pensionierung im Frühling 2009 war Sigg, selber Mitglied der Sozialdemokratischen Partei (SP), Bundesratssprecher und damit Vizekanzler der Eidgenossenschaft.
Ende der 80er-Jahre war Sigg Chefredaktor der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA). Von 1991 bis 1997 amtete er als Sprecher der Schweizerischen Radio und Fernsehgesellschaft (SRG), zu der auch swissinfo gehört.
Sigg studierte Soziologie und Wirtschaft an den Universitäten von St. Gallen, Bern und in Paris. Seine Dissertation schrieb Sigg zum Thema Volksinitiativen.
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