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Stimmenthaltende sind meist in der Mehrzahl

In den letzten 20 Jahren variierte die Stimm- und Wahlbeteiligung zwischen 42 und 48%. Keystone

Bei Parlamentswahlen gehen in der Schweiz nur 4 von 10 Berechtigten an die Urne, signifikant weniger als in anderen europäischen Ländern. Dies im Gegensatz zum traditionellen Bild der Modell-Demokratie, in der das Volk aktiv in die politischen Entscheidungen eingreift.

In fast allen europäischen Ländern ziehen Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen 60 bis 90% aller Stimmberechtigten an die Urnen.

In Deutschland etwa beteiligten sich 2009 über 70% der Berechtigten an den Parlamentswahlen.

Um in der Schweiz auf solch hohe Anteile zu kommen, muss man ins ferne Jahr 1919 zurückgehen. Seither hat der Wähler-Anteil regelmässig abgenommen. In den letzten 20 Jahren variierten die Werte zwischen 42 und 48%.

Ist die Schweizer Bevölkerung «politikgesättigt»? Ausgerechnet in dem Land, das oft als Modellfall der direkten Demokratie bezeichnet wird, besonders was das beharrliche Anwenden der Volksrechte betrifft (Volksinitiative und Referendum).

In der Schweiz nimmt das Volk drei bis vier Mal jährlich zu zahlreichen Themen Stellung, auf Landesebene, aber auch im kantonalen und kommunalen Bereich.

Wahlergebnis wie erwartet

«Der Umstand, dass fast alle drei Monate ein Urnengang ansteht, trägt dazu bei, das Stimmvolk etwas zu ermüden», sagt der Politologe Werner Seitz.

«Wenn die Bevölkerung nur alle 4 Jahre wie in anderen Ländern seine Meinung sagen könnte, würde es dies auch intensiver tun.»

Ausserdem hätten in der Schweiz die Wahlen einen anderen Stellenwert als in parlamentarischen Demokratien, «wo jede Abstimmung zu einer neuen Regierung führen kann», sagt der Leiter der Sektion Politik, Kultur und Medien beim Bundesamt für Statistik (BFS).

Das schweizerische Politik-System hingegen, so Seitz, beruht auf der Konkordanz: Die grössten politischen Parteien teilen sich seit fast einem halben Jahrhundert die Regierungs-Sitze, abgesehen von kleinen Verschiebungen in den letzten Jahren.

«Dieses Konkordanz-System des Regierens ist zwar eine sehr stabile Institution, wirkt aber auch träge. Den Schweizer Stimmenden fehlt das plebiszitäre Element, das in anderen Ländern zu finden ist», unterstreicht Seitz.

Wenn jedoch wichtige Themen anstehen, wie bei der landesweiten Frage des Anschlusses an den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder der Abschaffung der Armee, wachsen die Stimmanteile auf über 70%, betont der Politologe.

Das zeige jeweils, dass die Demokratie in der Schweiz gut funktioniere, wenn auch nur von Fall zu Fall.

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Aktives Wahlrecht

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Das Recht der mündigen Bürgerinnen und Bürger, die 200 Mitglieder des Nationalrats und die 46 des Ständerats zu wählen. Für die Wahl des Nationalrats gilt eidgenössisches, für die des Ständerats kantonales Recht. Die Mitglieder der übrigen Bundesbehörden werden von der Vereinigten Bundesversammlung gewählt. (Quelle: Glossar Bundesbehörden)

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Gesellschaftliche Unterschiede

Laut Untersuchungen des Bundesamts bleiben jüngere Personen eher der Urne fern als ältere. Ausserdem gehen Leute mit tiefer Schulbildung weniger Stimmen und Wählen als jene mit beruflich besseren Qualifikationen.

«Diese Unterschiede lassen eine Art der Demokratie durchscheinen, die von der höheren Mittelklasse dominiert wird, was Fragen bezüglich der Qualität unseres politischen Systems aufwirft», sagt Seitz.

Laut dem Politologen müssten die politischen Kräfte und Institutionen mehr Effort an den Tag legen, um die gesamte Bevölkerung anzusprechen. Die Parteien sollten ihre Positionen klarer darlegen.

Der vorgesehene Einsatz von neuen elektronischen Instrumentarien wie dem Internet könnte die Stimmbeteiligung ebenfalls erhöhen. Doch erwarten die Experten auch in diesem Falle keine grosse Zunahme der Wähler und Stimmbürger.

Es werden wohl wiederum die besser Ausgebildeten sein, die diese neuen Technologien nutzen dürften.

Fehlendes Interesse

Aber wie würde sich denn die sogenannte schweigende Mehrheit entscheiden, wenn sie regelmässig an Wahlen und Abstimmungen teilnähme?

«Lange Zeit dachte man, dass die Linke vom Umstand einer breiteren Beteiligung profitieren könnte, im Glauben, dass die schlechter verdienenden Schichten eher für sie wählen würden», sagt der Politikwissenschafter Georg Lutz von der Universität Bern.

Doch scheine sich das nicht bewahrheitet zu haben, oder stimmte zumindest heute nicht mehr. Zahlreiche Leute aus weniger privilegierten Kreisen unterstützen eher die Schweizerische Volkspartei und die national denkende Rechte.

Lutz, der sein Doktorat diesem Thema gewidmet hat, hält jedoch fest, dass sich solche Entwicklungen in engem Rahmen bewegen.

«Alle, die wählen, können als repräsentativ für den Rest der Bevölkerung erachtet werden», sagt der Politikwissenschafter. «Jene aber, die nicht wählen gehen, zeichnen sich in erster Linie durch ihr fehlendes Interesse an Politik aus.»

Diese verfügten im allgemeinen nicht über richtige Präferenzen, und in ihren Augen unterschieden sich die Parteien kaum voneinander.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wählten rund 80% der damals stimmberechtigten Männer über 20 Jahren das Parlament neu (National- und Ständerat).

Seit dem II. Weltkrieg bröckelte die Stimmbeteiligung langsam ab.

In den letzten 20 Jahren pendelte sich der Anteil zwischen 42 und 46% der Berechtigten ein.

Noch unsteter sind die Anteile der Stimmenden, wenn man nur die Abstimmungen auf Landesebene betrachtet.

In den letzten 20 Jahren schwankte der Anteil der Stimmbeteiligung zwischen 27 und 78%, je nach dem Interesse, das das Thema hervorruft.

Die Ausweitung des Stimm- und Wahlrechts auf die Frauen (1970), auf die Auslandschweizer (1977) sowie auf die 18- und 19-Jährigen (1991) hat die hohe Stimmenthaltung bei Wahlen auf eidgenössischer Ebene nicht verändert.

Was die Fünfte Schweiz betrifft, haben sich rund 130’000 Auslandschweizer in Stimmregistern eintragen lassen, etwa ein Viertel jener, die berechtigt wären.

Schweiz, Parlamentswahlen 2007: 48%

Frankreich, Parlamentswahlen 2007: 59%; Präsidentschaftswahlen 2007: 84%

Deutschland, Parlamentswahlen 2009: 70%

Italien, Parlamentswahlen 2008: 78%

Österreich, Parlamentswahlen 2008: 78%

(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)

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