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Stimmvolk entscheidet über Mittel gegen Pflegenotstand

Krankenschwester
Weltweit stehen Krankenschwestern wie Martina Papponetti im Krankenhaus von Bergamo in Italien an vorderster Front im Kampf gegen das Coronavirus. Copyright 2020 The Associated Press. All Rights Reserved

Mitten in der Covid-19-Pandemie ist die Schweiz mit einem gravierenden Mangel an medizinischem Personal konfrontiert. Allen scheint klar, dass etwas getan werden muss, aber über die Lösungen sind sich die Branche und das Parlament nicht einig. Am 28. November sollen nun die Stimmberechtigten entscheiden – alles, was Sie über die Pflegeinitiative wissen müssen.

“Jeden Tag gab es eine kranke Pflegefachfrau, und sie wurde nicht ersetzt. Ich war bei der Arbeit sehr gestresst. Ich kam nervös nach Hause und liess meine Frustration an meiner Familie aus”, erzählt Carole R.*, eine Fachangestellte Gesundheit für Chirurgie und Intensivpflege, gegenüber swissinfo.ch in einer Umfrage vom Mai 2020. Die Worte verdeutlichen die Situation des Schweizer Pflegepersonals, die man wie folgt zusammenfassen kann: unterbesetzt, gestresst, schlecht bezahlt.

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Die Betreuerinnen und Betreuer, denen im ersten Lockdown von den Balkonen aus applaudiert wurde, fordern Massnahmen zur Lösung eines Problems, das als Pflegenotstand seit langem bekannt ist, das aber angesichts der Pandemie weniger denn je ignoriert werden kann.

In diesem Kontext stimmt das Schweizer Stimmvolk am 28. November über die Volksinitiative “Für eine starke Pflege”Externer Link, auch bekannt als Pflegeinitiative, ab. Aber was beinhaltet sie? Hier die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Wie gross ist der Mangel?

Während der Pflegebedarf mit der Überalterung der Bevölkerung zunimmt, bildet die Schweiz nicht genügend qualifiziertes Personal aus. Ausserdem gibt es eine hohe Abbrecher:innenquote: 46% der Pflegefachkräfte verlassen ihren Beruf wieder. Wenn nichts unternommen wird, fehlen der Schweiz nach Schätzungen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums im Jahr 2030 rund 65’000 Pflegefachpersonen.

Derzeit rekrutiert die Schweiz massiv Fachpersonal aus den Nachbarländern, um ihren Bedarf zu decken. Ein Drittel des Pflegepersonals in Krankenhäusern kommt aus dem Ausland.

Diese Abhängigkeit kann jedoch zu Problemen führen, wie die Pandemie gezeigt hat. Als die Staaten ihre Grenzen schlossen, um die Ansteckung zu begrenzen, musste die Schweiz mit ihren Nachbarn verhandeln, damit das Gesundheitspersonal weiterhin zirkulieren konnte.

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Was fordert die Volksinitiative?

Der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) schlägt mit ihrer bereits 2017 eingereichten Initiative eine Lösung für die Behebung des Pflegenotstands vor.

Erstens fordert die Pflegeinitiative Bund und Kantone auf, genügend qualifizierte Pflegefachleute in der Schweiz auszubilden. Zweitens will sie das Ansehen des Berufsstands verbessern.

Zu diesem Zweck fordert die Initiative bessere Arbeitsbedingungen, unter anderem über die Gehaltsentwicklung. Gemäss der letzten Gesundheitsübersicht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) von 2019 hat das Schweizer Pflegepersonal gemessen am durchschnittlichen Einkommen im Land heute mit die tiefsten Löhne aller Vergleichsstaaten.

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Der Bund sollte, so will es die Initiative weiter, Bestimmungen zur beruflichen Entwicklung erlassen, um so neue Karriereperspektiven zu eröffnen, wie die Befürworter:innen der Initiative sagen.

Schliesslich will die Vorlage dem Pflegepersonal auch mehr Befugnisse einräumen, indem sie ihnen erlaubt, bestimmte Leistungen direkt mit den Versicherungsunternehmen abzurechnen. Derzeit benötigen sie dafür eine ärztliche Verschreibung.

Was sieht der indirekte Gegenvorschlag des Parlaments vor?

Auch Regierung und Parlament wollen die Pflege stärken und den Personalmangel eindämmen. Sie sind aber der Meinung, dass die Volksinitiative zu weit geht. Sie haben daher einen indirekten Gegenvorschlag angenommen, der zwei Forderungen der Initiant:innen erfüllt, nämlich die Förderung der Ausbildung und die Erweiterung der Kompetenzen der Pflegekräfte.

Der Gegenvorschlag sieht einerseits Investitionen von rund einer Milliarde Franken über acht Jahre in die Aus- und Weiterbildung vor. Andererseits soll das Pflegepersonal, wie es die Initiative fordert, auf eine ärztliche Verordnung verzichten können, um bestimmte Leistungen mit der obligatorischen Krankenpflegeversicherung abzurechnen. Um zu verhindern, dass diese Massnahme die Gesundheitskosten in die Höhe treibt, würde ein Kontrollmechanismus eingeführt.

Warum hat das Stimmvolk ein Mitspracherecht?

Im Jahr 2017 konnte der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner über 120’000 Unterschriften für seine Initiative sammeln. Das Initiativkomitee war vom indirekten Gegenvorschlag des Parlaments nicht überzeugt und beschloss, den Text nicht zurückzuziehen.

Die Stimmberechtigten im In- und Ausland werden deshalb das letzte Wort haben. Wenn sie die Initiative annehmen, wird der Gegenvorschlag begraben. Wenn nicht, wird er rasch in Kraft treten.

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Was sind die wichtigsten Argumente für die Initiative?

Die Befürworter:innen sind der Meinung, dass sich der Gegenvorschlag auf Investitionen in die Ausbildung konzentriert, aber keine ausreichenden Massnahmen zur Verbesserung der Qualität der Pflege und der Arbeitsbedingungen in diesem Sektor vorsieht.

Das Initiativkomitee hält dies für ein Schlüsselelement zur Vermeidung von Berufsaustritten. Es ist der Ansicht, dass die vom Parlament geplanten Investitionen ohne zusätzliche Massnahmen vergeudet würden.

Das Ja-Lager argumentiert weiter, dass die Arbeitszufriedenheit in erster Linie von der Anzahl der Pflegekräfte pro Team, den persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und dem Gehalt abhänge.

Es sei daher wichtig, dass die Schweiz mehr eigenes Fachpersonal ausbilde, um nicht so stark vom Ausland abhängig zu sein. Die Befürworter:innen sehen in der Initiative das einzige Mittel, um die Qualität der Versorgung und die Sicherheit der Patientinnen und Patienten zu gewährleisten.

Was sind die Argumente gegen die Initiative?

Das Nein-Lager vertritt die Ansicht, die Initiative gehe zu weit, unter anderem weil sie vom Bund verlange, die Arbeitsbedingungen und Löhne zu regeln. Dies sei nicht die Aufgabe des Bundes, so die Gegnerschaft, sondern der Institutionen, der Sozialpartner und der Kantone.

Die Gegnerinnen und Gegner des Textes weisen darauf hin, dass die medizinische Grundversorgung bereits in der Verfassung verankert sei. Es sei daher nicht notwendig, die Krankenpflege speziell zu erwähnen – dies auch, um eine Privilegierung einer Berufsgruppe zu vermeiden.

Die direkte Abrechnung von Leistungen könnte auch zu einem Anstieg der Gesundheitskosten führen, warnt das Nein-Lager und befürwortet auch darum den indirekten Gegenvorschlag, der einen Kontrollmechanismus vorsieht.

Argumentiert wird auch, dass der bereits vom Parlament verabschiedete Gegenvorschlag rasch umgesetzt werden könnte und so dem Pflegenotstand entgegenwirke.

Die Umsetzung der Initiative würde hingegen mehr Zeit in Anspruch nehmen, da der Bundesrat und das Parlament ein neues Gesetz ausarbeiten müssten, das erst später in Kraft träte.

Wer ist dafür, wer dagegen?

Unterstützung hat die Pflegeinitiative auf Parteienseite von der Sozialdemokratischen Partei und den Grünen, während die Parteien des rechten Flügels und der Mitte den Gegenvorschlag vorziehen.

Auch der Gesundheitssektor selbst ist sich nicht einig. Neben dem Verband unterstützen auch Ärzte- und Patientenorganisationen sowie die grossen Gewerkschaften die Initiative.

Vier Seniorenverbände bevorzugen jedoch den indirekten Gegenvorschlag. Dieser sei klar und verbindlich und habe den Vorteil, dass er sofort umgesetzt werden könne.

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