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Strafsystem nach Mordfall in Genf erneut im Brennpunkt

Genfer Polizei am Donnerstag nahe dem Ort, wo die Leiche der ermordeten Sozialtherapeutin gefunden wurde. Keystone

Inhaftierter Vergewaltiger tötet auf Freigang die ihn alleine begleitende Therapeutin: Der Fall, der sich letzten Donnerstag in Genf ereignete, hat in der Schweiz Entsetzen und Fragen zum Strafsystem ausgelöst. "Wie ist das möglich?", fragte etwa Le Matin.

Der mutmassliche Täter, der wegen zweifacher Vergewaltigung eine Strafe in einem Genfer Gefängnis absass, konnte am Sonntag in Polen verhaftet werden. Der 39-jähriger Mann wird verdächtigt, am Donnerstag seine 34-jährige Sozialtherapeutin ermordet zu haben, die ihn alleine auf einem Freigang zu einer Reittherapie begleitet hatte. Die Leiche der jungen Frau wurde am selben Tag in einem Waldstück bei Genf gefunden.

Erst im Mai hatte in Payerne ein verurteilter Sexual- und Gewalttäter, der aus dem Gefängnis entlassen worden war und unter Hausarrest stand, eine 19-jährige Frau umgebracht.

«Zuerst Marie im Waadtland; jetzt Adeline in Genf. Wenn nach dem erneuten furchtbaren Tötungsdelikt an einer jungen Frau durch einen mehrfach verurteilten Gewalttäter gewisse Fehlentwicklungen in unserem Rechtsalltag radikal infrage gestellt werden, hat das nichts mit Populismus zu tun», schrieb Der Bund.

Die Zeitung aus Bern erinnert an das Ja der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger 2004 zur Verwahrungsinitiative. Diese verlangt, dass Sexual- oder Gewaltstraftäter, die «als extrem gefährlich erachtet und als nicht therapierbar eingestuft werden», lebenslang verwahrt werden müssen. Die Justiz aber tue sich mit dem geäusserten Volkswillen schwer. «Es wird immer Verbrechen geben. Aber wo diese vermeidbar gewesen wären wie im Fall Marie und im Fall Adeline, ist das Pochen auf Menschenrechte von Verbrechern zynisch. Das Recht auf Leben und sexuelle Unversehrtheit muss höher gewichtet werden», fordert der Bund.

Fall Marie

Mitte Mai 2013 tötet ein 36-jährige Mann aus Payerne seine 19-jährige Ex-Freundin Marie. Der Täter war 2000 wegen Mordes und Vergewaltigung zu 20 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden, zur Zeit der Tat lebte er unter Hausarrest.

Fall Jean-Louis B.

Im Juni 2011 entkommt ein inhaftierter und als extrem gefährlich geltender Vergewaltiger und Mörder auf einem begleiteten Spaziergang am Neuenburgersee. Fünf Tage später kann der Mann in einem Restaurant gefasst werden.

Fall Lucie

 Am 4. März 2009 lockt ein arbeitsloser Koch in Baden ein Au-pair-Mädchen in seine Wohnung und tötet sie. Er war wegen versuchter Tötung vorbestraft, wurde aber für therapiefähig erklärt.

«Callgirl-Mörder»

Ein wegen mehrerer brutaler Sexualdelikte vorbestrafter Mann ersticht 2008 in seiner Wohnung im Kanton Thurgau ein 30-jähriges thailändisches Callgirl. Gutachter beurteilen den Angeklagten im neuen Verfahren als rückfallgefährdeten Sadisten.

Bei der Verhandlung vor Gericht stritt der Mann die Tat ab. DNA-Spuren und Zeugenaussagen belasteten ihn aber schwer. 2010 wird gegen ihn erstmals in der Schweiz die lebenslange Verwahrung ausgesprochen. 2011 zog er ein Berufungsbegehren gegen die Verwahrung zurück.

Fall Katja Vetsch

Die 13-jährige Schülerin Katja Vetsch wird 1996 im Kanton St. Gallen auf dem Nachhauseweg von einem Wiederholungstäter aus Vorarlberg überfallen, misshandelt, vergewaltigt und in einen Kanal geworfen. Als sie sich totstellte, liess der Täter von seinem Opfer ab. Ihre Patin Anita Chaaban lanciert in der Folge die Verwahrungsinitiative, die 2004 vom Volk angenommen wird.

Fall Pasquale Brumann  

Der wegen elf Vergewaltigungen und zwei Sexualmorden verurteilte und in Regensdorf im Kanton Zürich inhaftierte Erich Hauert ermordet 1993 während eines Hafturlaubs die 20-jährige Pfadiführerin Pasquale Brumann in einem Waldstück in Zollikerberg.

Die Tat löst im ganzen Land Entsetzen und eine breite Diskussion über den Umgang mit notorischen Gewalt- und Sexualstraftätern aus. Der damalige Zürcher Justizdirektor Moritz Leuenberger sah sich mit heftiger Kritik konfrontiert. In der Folge wurden Urlaubs- und Entlassungsrichtlinien verschärft.

Automatische Verwahrung

Auch unter Mitgliedern des Schweizer Parlaments wächst die Überzeugung, dass eine harte und konsequente Haltung Not tut. «Es kann nicht sein, dass alle drei Monate eine Frau einem Freigänger oder einem aus der Haft entlassenen Mann zum Opfer fällt», sagte die sozialdemokratische Nationalrätin Margret Kiener Nellen.

Man brauche bei Sexualstraftätern ein härteres Regime. «Ich beantrage in der Rechtskommission, dass wir die Führung der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) vorladen und gemeinsam analysieren, was die Kantone beim Strafvollzug verbessern können.» Die Kantone stünden in der Pflicht, den Schutz der Bürger zu verbessern, pflichtet ihr SP-Parteikollegin Susanne Leutenegger Oberholzer bei.

Für Natalie Rickli reicht das nicht aus. «Es gibt immer eine zweite, dritte oder vierte Chance für Straftäter. Damit muss Schluss sein», forderte die Nationalrätin der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) in der SonntagsZeitung. Sie will im Parlament einen Vorstoss einreichen, dass Sexual- und Gewaltverbrecher im Wiederholungsfall automatisch verwahrt werden müssen. Zudem will sie zuständige Gerichte und Gutachter haftbar machen, wenn vorzeitig Entlassene oder Häftlinge auf Urlaub oder auf einem Ausflug erneut ein Gewaltverbrechen begehen.

Die Aussichten für die Zürcher Nationalrätin sind scheinen positiv. «Wir müssen tatsächlich prüfen, wie bei schweren Straftaten eine automatische Verwahrung für Wiederholungstäter eingeführt werden kann», sagte Viola Amherd, Fraktionschefin der Fraktion der Christlichdemokraten (CVP). Und Nationalrat Bernhard Guhl von der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP) räumte gegenüber der SonntagsZeitung zwar ein, dass jeder eine zweite Chance verdient habe. «Doch wenn jemand rückfällig wird, muss die Bevölkerung vor ihm geschützt werden».

Positive Signale der Polizei 

Die Parlamentsmitglieder stossen bei der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren auf offene Ohren. Präsident Hans-Jürg Käser geht davon aus, dass die Gerichte künftig «mehr Verwahrungen und weniger Massnahmen aussprechen», wie er der SonntagsZeitung gegenüber signalisierte. Wie Rickli stellt auch er fest, dass nach Annahme der Verwahrungsinitiative die Gerichte vermehrt dazu übergegangen seien, therapeutische Massnahmen auszusprechen, um Verwahrungen zu vermeiden.

Innerhalb der KKJPD herrscht aber nicht in allen Punkten Einigkeit. Weil  Deutschschweizer Kantone gegenüber Gewalttätern offensichtlich strengere Regeln als die Romandie anwendeten, forderte Konferenz-Vizepräsident Beat Villiger gegenüber dem SonntagsBlick einheitliche Standards zur Betreuung und Beurteilung von gemeingefährlichen Täter. Deshalb müssen die drei Strafvollzugskonkordate, solche bestehen für die Ostschweiz, Nordwest- und Zentralschweiz und die lateinische Schweiz, laut Villiger zusammengelegt werden.

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Von einer solchen Fusion hält sein Chef nicht viel. «Je grösser eine Organisation ist, desto mehr geht der Überblick verloren», ist KKJPD Präsident Hans-Jürg Käser überzeugt.  «Es ist irrig, zu glauben, eine absolute Vereinheitlichung der Regeln verhindere künftig solche Fälle.»

Umstrittener Röstigraben der Strafjustiz

Unter Fachleuten ist klar, dass die Tötungen der beiden jungen Frauen durch verurteilte Gewalttäter durchaus das Resultat eines «Röstigrabens im Strafvollzug» sind, von dem die Nachrichtenagentur sda schrieb.

Strafvollzugsexperte Benjamin Brägger kritisierte, dass sich der Gefängnis-Psychiater in der Westschweiz «in erster Linie als Therapeut, der dem kranken Insassen zur Seite steht, um seine Krankheit zu lindern» verstehe.

Die Deutschschweizer Psychiatrie sehe sich dagegen mehr der Justiz verpflichtet und richte die Therapie stärker auf die Vermeidung eines Rückfalls aus. «Die Deutschschweiz favorisiert deliktorientierte Therapien», pflichtet ihm Frank Urbaniok, Chefarzt des Psychiatrisch-psychologischen Dienstes des Kantons Zürich und Pionier der forensischen Psychiatrie in der Schweiz, in der Zentralschweiz am Sonntag bei.

Brägger empfiehlt insbesondere einen verbesserten Informationsaustausch zwischen der Psychiatrie und dem Strafvollzug in der Westschweiz. Dazu haben Kantone in der Deutschschweiz gemäss der Initiative Urbanioks Teams zur geschaffen, in denen Fallverantwortliche, der psychiatrisch-psychologische Dienst, Sozialarbeiter, Aufseher, der Werkstattleiter bis zum Direktor der Strafanstalt inhaftierte Gewalttäter gemeinsam beurteilen. «Die Romandie muss mit Blick auf Organisation und Spezialisierung 15 bis 20 Jahre aufholen», konstatiert Brägger, der an den Universitäten Bern und Lausanne lehrt.

Westschweizer Kantone unter Druck  

Für die freisinnige Waadtländer Polizeidirektorin Jacqueline de Quattro ist klar, dass in der Westschweiz dringender Handlungsbedarf besteht. «Wir haben eine gefährliche Richtung eingeschlagen, unser System ist auf Abwegen», sagte de Quattro der NZZ am Sonntag. Explizit verlangte sie weniger Täterschutz.

In der Westschweiz sei dieser Täterschutz besonders ausgeprägt – «obwohl unsere Gefängnisse noch stärker überfüllt sind als diejenigen der Deutschschweiz», so de Quattro. Grund sei die französische Tradition, wonach die Menschenrechte des Einzelnen oftmals mehr als die Sicherheit der Gesellschaft gälten.

Die zwei tödlichen Dramen innerhalb von vier Monaten hält sie nicht für Zufälle, sondern für Systemfehler, denn das Justizsystem kümmere sich zu sehr um die Täter, die viel Aufmerksamkeit und Pflege erhielten. «Ich weigere mich aber, dies weiterhin zu akzeptieren», sagt de Quattro und fordert eine nationale Regelung des Strafvollzugs, damit nicht mehr jeder Kanton ­eigene Regeln aufstellt.

Für den emeritierten Strafrechtsprofessor Martin Killias sind die Verbrechen weniger Ausdruck eines Röstigrabens als einer grundsätzlichen Fehlentwicklung. «Der Strafvollzug ist lernresistent», schrieb Killias in der SonntagsZeitung, macht er doch auf beiden Seiten der Saane eine dominierende, «fatale Therapiegläubigkeit» aus.

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