Streichen oder nicht? Schweizer Parlament uneins über UNRWA-Hilfe
Soll die Schweiz die umstrittene Uno-Organisation für palästinensische Flüchtlinge weiter finanzieren? Die beiden Parlamentskammern in Bern sind sich nicht einig.
Während die Parlamentarier:innen den 90 Milliarden Franken schweren Haushaltsplan des Bundes für das kommende Jahr beraten, bekommt diesen Dezember ein Betrag von «nur» 20 Millionen Franken plötzlich eine nachhallende politische Brisanz.
Es handelt sich dabei um den jährlichen Beitrag der Schweiz an das UNO-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), das Schulen, Spitäler und – vor allem in den letzten Monaten – Notunterkünfte in Gaza und anderen Teilen des Nahen Ostens betreibt.
Am Montag stimmte der Nationalrat auf Vorschlag eines Politikers der rechtsgerichteten Schweizerischen Volkspartei für eine Kürzung der Mittel. David Zuberbühler berief sich in seinem Antrag auf Berichte von Nichtregierungsorganisationen (NGO) über Antisemitismus und Gewaltverherrlichung in UNRWA-Schulen; auch sei Mitgliedern der parlamentarischen Freundschaftsgruppe Schweiz-Israel, die im Januar Bethlehem besuchten, der Einblick in Klassenzimmer und Schulbücher verwehrt worden.
«Der Besuch vor Ort erlaubte es der Delegation vielmehr, sich zu vergewissern, dass die UNRWA in ein anti-israelisches Narrativ verfallen ist und das palästinensische Volk durch ihre Arbeit lediglich in seinem Opfergefühl bestärkt wird», schrieb Zuberbühler in seinem parlamentarischen Antrag.
Während eine starke Mitte-Rechts-Mehrheit in der grossen Kammer Zuberbühler zustimmte, waren sich die Ständeräte in der kleinen Kammer weniger sicher. Am Donnerstag stimmten sie knapp für die Ablehnung der Kürzung mit der Begründung, dass mehr Zeit benötigt werde, um die möglichen Auswirkungen zu bewerten.
Ein Ständerat lobte auch die «sehr wichtige Arbeit der UNRWA in einem sehr schwierigen Umfeld», während Finanzministerin Karin Keller-Sutter vor dem «Reputationsrisiko» einer Kürzung der Mittel für die Schweiz warnte.
Die Reaktion der UNO
Die Debatte wird am Montag im Nationalrat fortgesetzt. Aber sie hat bereits Reaktionen ausgelöst. Bei einer Friedensdemonstration am Donnerstagabend in Genf sagte die ehemalige Schweizer Bundespräsidentin Ruth Dreifuss, die Politiker:innen in Bern sollten sich bewusst sein, dass eine solche Kürzung «dramatische» Folgen für die Zivilbevölkerung im Nahen Osten haben könnte. Zuvor hatte sie gesagt, es sei «dumm und grausam», die Gelder zu kürzen, wenn die Not in Gaza so gross sei.
Der Chef der UNRWA, Philippe Lazzarini, der Anfang der Woche noch mit Bestürzung auf die Entscheidung reagiert hatte, begrüsste die Abstimmung im Ständerat. «Es ist wichtig, dass die Schweiz den Palästinensern und der Region weiterhin zeigt, dass sie ihrer humanitären Tradition verpflichtet bleibt», sagte er auf einem UNO-Flüchtlingsforum in Genf.
Bereits am Donnerstag hatte Lazzarini die Vorwürfe über antisemitisches Material in UNRWA-Schulen zurückgewiesen.
«Unser Lehrplan wurde von glaubwürdigen Institutionen wie dem British Council, der UNESCO oder dem deutschen Georg-Eckert-Institut evaluiert. Sie alle haben unser Bildungsprogramm gelobt», sagte er dem Tages-Anzeiger. «Es ist sehr enttäuschend, dass sich das Schweizer Parlament nun auf Desinformationen von Kampagnen-NGOs verlässt.» Gemeint sind von Zuberbühler zitierten Organisationen wie die israelische «IMPACT-Se» oder die in Genf ansässige «UN Watch».
Lazzarini sagte, dass er zwar nicht über die Handlungen jedes einzelnen der 30’000 UNRWA-Mitarbeiter:innen in der Region Rechenschaft ablegen könne, aber er könne ausschliessen, dass antisemitisches Material in den Schulen der Organisation im Umlauf sei.
Eine «perverse Logik»
Die Schweizer Regierung scheint die Dinge im Moment ähnlich zu sehen. Als der Bundesrat im vergangenen Dezember seinen Beitrag von 20 Millionen Franken erneuerte, erklärte er, die UNRWA spiele «eine Schlüsselrolle als stabilisierender Faktor in der Region» und biete Millionen von Flüchtlingen jedes Jahr eine hochwertige Gesundheitsversorgung.
Er hob auch die 710 vom UNRWA betriebenen Schulen in der Region hervor, in denen rund 540’000 Kinder unterrichtet werden. Diese würden Chancen eröffnen und dazu beitragen, «das Risiko der Radikalisierung zu verringern», schrieb die Regierung.
In der Vergangenheit hat sie jedoch auch nicht vor Kritik an der UNO-Organisation zurückgeschreckt. 2018 bemerkte Aussenminister Ignazio Cassis, dass die UNRWA den Frieden in der Region eher behindere als fördere; indem die Schweiz die Organisation unterstütze, halte sie «den Konflikt am Leben – das ist eine perverse Logik», sagte Cassis seinerzeit.
Er forderte die Integration der palästinensischen Langzeitflüchtlinge in den Ländern, in denen sie leben, anstatt die Hoffnung auf eine Rückkehr nach so vielen Jahrzehnten noch immer aufrechtzuerhalten.
Nachdem die USA 2018 die Gelder für das Hilfswerk eingefroren hatten, tat die Schweiz dies vorübergehend auch. Der Schritt stand im Zusammenhang von Fehlverhaltensvorwürfen an den früheren UNRWA-Chef Pierre Krähenbühl, die 2019 zu seinem Rücktritt führten.
Ein neuer Kontext
Seit den Hamas-Angriffen vom 7. Oktober und dem darauf folgenden israelisch-palästinensischen Krieg ist die UNRWA nicht nur mit einer humanitären Katastrophe im Gazastreifen konfrontiert, sondern auch mit einer Situation, in der die Geberländer ihre Hilfe für die Region überdenken.
Das Schweizer Aussenministerium, das die Anschläge vom 7. Oktober als «drastische Veränderung des Kontextes» bezeichnete, hat die UNRWA nicht in Frage gestellt. Es überprüfte jedoch die Finanzierung von 11 palästinensischen und israelischen NGO, die im Verdacht standen, politisch voreingenommen zu sein. Am Ende bestätigte die Schweiz die Zusammenarbeit mit acht diesere Organisationen, mit den übrigen drei stellte sie die Kooperation ein.
Ausserdem hat die Schweiz eine Taskforce eingesetzt, die unter anderem «eine neue detaillierte Analyse der Finanzströme im Zusammenhang mit dem Kooperationsprogramm im Nahen Osten» durchführen soll.
Die Europäische Union hat – nach anfänglicher Verwirrung, die den Eindruck erweckte, sie wolle ihre gesamte Entwicklungshilfe für Palästina aussetzen – ebenfalls eine ÜberprüfungExterner Link durchgeführt, die keine Hinweise auf Unregelmässigkeiten ergab. Auch nicht bei der UNRWA, für welche die EU die drittgröste Geberin ist.
Auch die Vereinigten Staaten als bei weitem grösste Unterstützer der UNRWA sehen sich mit politischen Auseinandersetzungen um die Hilfe konfrontiert, wie die Washington Post letzten Monat berichteteExterner Link.
Die Zeitung schrieb, dass einige Republikaner aufgrund der angeblichen Verbindungen des Hilfswerks zur Hamas sowie aufgrund der konkurrierenden geopolitischen und humanitären Prioritäten in der Ukraine eine Kürzung der Mittel fordern.
Was die 20 Millionen Franken der Schweiz betrifft, die im Vergleich zu den Beiträgen der USA (344 Millionen Dollar), Deutschlands (204 Millionen Dollar) und der EU (114 Millionen Dollar) eher unbedeutend sind, so hatte sich das Aussenministerium bis Freitagmorgen noch nicht zu der Parlamentsdebatte geäussert.
Es könnte aber in der nächsten Woche in die Debatte involviert werden: Nach Ansicht verschiedener Ständerät:innen sollten das Parlament zunächst die Expert:innen des Aussenministeriums – oder den Aussenminister selbst – anhören, bevor sie eine «fundierte Entscheidung» treffen.
Im Frühling dieses Jahres trafen wir Philippe Lazzarini, den Leiter der UNRWA. Lesen Sie hier das Interview:
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UNRWA-Leiter Philippe Lazzarini: «Der Status quo ist nicht mehr tragbar»
Editiert von Virginie Mangin. Übertragung aus dem Englischen: Marc Leutenegger.
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