Ein grenzüberschreitender See sorgt für Zwietracht
Der Pegelstand des Lago Maggiore zwischen dem Kanton Tessin und Italien wird an seinem Südende in Italien geregelt. Obwohl eigentlich vorgesehen, gibt es keine italienisch-schweizerische Aufsichtskommission. So entschied Italien kürzlich einseitig, das Niveau des Sees zu erhöhen – was den Schweizer Behörden überhaupt nicht gefällt.
Der Lago Maggiore (Langensee) hat eine besondere Eigenschaft: Seine Seeoberfläche ist im Vergleich zu seinem Einzugsgebiet klein. Das bedeutet, dass das Niveau des Sees bei starken Regenfällen – vor allem im Sommer – oft rapide ansteigt. 80% der Fläche befinden sich auf italienischem Staatsgebiet, aber das Einzugsgebiet liegt zu je 50% in der Schweiz und in Italien.
Etwas Geschichte
Bereits im 15. Jahrhundert gab es die ersten Versuche, den Pegelstand des Sees anzupassen, um den Gütertransport auf dem See und auf dem Fluss Ticino und dem im Entstehen befindlichen Kanalsystem «Navigli» von Mailand zu erleichtern. Aber auch, um die Landwirtschaft (besonders Reisfelder), die Industrie und die Wasserkraft-Produktion zu fördern.
Im 19. Jahrhundert wurden erste Studien durchgeführt, um in der Nähe des Seeausflusses eine Anlage zur Regulierung des Wasserpegels im Ticino zu bauen. Dieser ist der einzige Abfluss des Sees. Schliesslich wurde zwischen 1938 und 1942 drei Kilometer flussabwärts der Stadt Sesto Calende die «Diga della Miorina»Externer Link erbaut. Die Eröffnung fand am 1. Januar 1943 statt, mitten im Zweiten Weltkrieg.
Das Flusswehr ist auch heute noch ein wichtiges Element im Wassermanagement-System des Sees und des Ticino. Es wird vom «Consorzio del Ticino»Externer Link verwaltet. Dieses hat die Aufgabe, täglich den Wasserpegel des Sees zu regeln.
1940 bereits erteilte Italien dem Konsortium eine Konzession, in der es die Breite des Regulierungsbandes festlegte, innerhalb dessen das Konsortium den Wasserpegel frei bestimmen kann (siehe Kasten). Diese Daten sind heute noch gültig.
Pegelstände des Lago Maggiore
Während der Sommersaison (16. März – 31. Oktober) liegt der Regulierungsbereich zwischen den festen Grenzwerten von -0,5 Metern und +1 Meter relativ zum hydrometrischen Nullpunkt, berechnet auf Sesto Calende (193,016 M.ü.M.). In der Wintersaison (1. November – 15. März) liegt der Regulierungsbereich zwischen -0,5 und +1,5 Metern.
Gemeinsame Kommission? Fehlanzeige
Bereits damals war eine internationale italienisch-schweizerische Aufsichtskommission vorgesehen, die über Streitigkeiten zwischen den beiden Ländern hätte entscheiden sollen. Diese wurde aber nie geschaffen – man befand sich damals schliesslich mitten in einem Krieg.
Auch heute existiert sie nur auf Papier, denn die beiden Länder haben noch nie Mitglieder in deren Ausschuss berufen. Lediglich einen «Technischen Tisch» gibt es, an dem zwar Diskussionen stattfinden, aber keine Entscheide getroffen werden. Weil eine gemeinsame Aufsichtskommission fehlt, kann keine gemeinsame Lösung gefunden werden.
Aber auch, weil die Situation sehr kompliziert ist: Einerseits soll die Regulierung des Lago Maggiore verhindern, dass der Wasserpegel zu niedrig oder zu hoch ist. Andererseits ist es aufgrund der unterschiedlichen Interessen der vielen Akteure, die mit dem See zu tun haben, gar nicht möglich, eine für alle passende Lösung zu finden.
Wer will was?
Italien wünscht sich je nach Bedarf unterschiedliche Pegelstände des Lago Maggiore: einen hohen, um die Bewässerung der Felder zu gewährleisten, oder einen niedrigen im Fall von drohenden Überschwemmungen (unter anderem zum Schutz der Stadt Pavia).
Die Schweiz im Gegenzug zieht generell einen niedrigeren Wasserspiegel vor, um bei starken Regenfällen ein potenzielles Rückhaltebecken zu haben und auch das Ökosystem der Bolle di MagadinoExterner Link zu schützen.
Daneben gibt es aber noch zahlreiche weitere Gruppen, die alle ihre besonderen Interessen haben. Beispielsweise die Umwelt- und die Fischereiverbände. Diese verlangen, dass der Fluss Ticino wieder möglichst naturnah wird. Denn das derzeitige Regulierungssystem schädige die natürlichen Lebensräume des Flusses und gefährde die Reproduktionsfähigkeit seiner Fischbestände.
Einseitige Ankündigung Italiens
Die letzten Jahre waren besonders von Dürren gekennzeichnet. Das bedeutet, dass der Wasserpegel im Sommer tief ist. Flussabwärts des Sees, in den Provinzen Novara und Pavia, wird über die begrenzte Durchflussmenge des Ticino geklagt: Vor allem die Landwirtschaft, aber auch die Industrie leidet sehr stark darunter.
Auch aus diesem Grund hat Italien im Rahmen eines laufenden Versuchs für den Zeitraum 2015-2020 einseitig entschieden, den Wasserpegel des Sees auch im Sommer auf 1,5 Meter über den hydrometrischen Nullpunkt zu erhöhen.
Italien und der einseitige Versuchsbetrieb
Die Versuche zur Regulierung des Wasserspiegels des Sees werden seit 2015 während fünf Jahren durchgeführt.
Sie zielen auf die Optimierung der Bewirtschaftung der Wasserressourcen des Lago Maggiore, unter Berücksichtigung aller Interessen, die im Spiel sind.
Dazu gehören namentlich der Hochwasserschutz und der Schutz des Naturschutzgebiets der Bolle di Magadino.
Der Versuchsbetrieb wurde von der Schweiz nie akzeptiert. Dementsprechend fielen auch die Kommentare im Kanton Tessin auf den italienischen Entscheid aus. Die Kantonsregierung schickte dem Bundesamt für UmweltExterner Link (Bafu) und den italienischen Ansprechpartnern einen Brief.
Darin brachte sie ihre Besorgnis und die der Gemeinden am Ufer des Lago Maggiore zum Ausdruck und fügte an, dass «ein einseitiger Entscheid nicht akzeptabel ist». Der Regierungsrat macht sich Sorgen über Schäden, die bei Überschwemmungen auftreten und Auswirkungen auf die Bolle di Magadino haben könnten.
Diese Sorge teilt auch die Landesregierung (Bundesrat): Bundesrätin Simonetta Sommaruga forderte am 11. März in einer schriftlichen Antwort auf eine Anfrage des christlichdemokratischen Tessiner Nationalrats Fabio Regazzi Italien auf, nicht einseitig zu handeln.
«Ein Entscheid zur Erhöhung muss mit der Schweizer Seite abgesprochen werden», schrieb die Umweltministerin. Sommaruga bestätigte, dass sich der Vertreter des Bafu im vergangenen Februar am italienisch-schweizerischen «Technischen Tisch» dagegen geäussert habe.
Eine wissenschaftliche Lösung?
Ist es möglich, den Lago Maggiore so zu regulieren, dass alle Bevölkerungsgruppen, welche die Wasserressourcen nutzen, zufriedengestellt sind? Dieser Frage geht das interregionale Projekt «STRADA»Externer Link (Anpassungsstrategien an den Klimawandel für das Management von Naturgefahren im grenzüberschreitenden Gebiet) nach.
Darüber hinaus wird auch untersucht, wie die Häufigkeit von Überschwemmungen in den Städten Locarno und Verbania (Italien) reduziert werden kann, ohne die Ökosysteme zu schädigen und gleichzeitig die Sicherheit der Stadt Pavia zu gewährleisten.
Die Art und Weise, wie der Lago Maggiore reguliert wird, basiert immer noch auf Regeln, die vor fast hundert Jahren festgelegt wurden. In der Zwischenzeit aber haben sich die Nutzungen, Interessen und involvierten Bereiche vervielfacht.
Heute stehen aber auch viel mehr technische Hilfsmittel und wissenschaftliche Erkenntnisse zur Verfügung. Nicht zuletzt hat das ökologische Bewusstsein zugenommen. Das erklärt die Komplexität des Systems und die Zunahme der Konflikte.
So hat das interregionale Projekt neue Instrumente vorgestellt, neues Wissen hervorgebracht und neue Daten formuliert, auf welche die Entscheidungsträger zurückgreifen können. Könnten, denn immer noch existiert, wie bereits erwähnt, kein Überwachungsausschuss, der all diese Daten nutzen und Entscheidungen treffen kann.
Bis ein solcher geschaffen wird, kann Italien allein bestimmen, weil sich das Wehr von Miorina auf seinem Territorium befindet und die Italiener allein für das Schliessen und Öffnen der Schleusen verantwortlich sind.
Die Schweizer, obwohl sie mit am «Technischen Tisch» sitzen, können lediglich Fragen stellen und Vorschläge einbringen. Aber nichts entscheiden. Nun hat Italien beschlossen, das Niveau des Sees hoch zu halten. Sollte dieser Sommer besonders regnerisch sein, werden die Stadt Locarno und die Bolle di Magadino – um nur zwei Beispiele zu nennen – besonders unter Druck stehen.
(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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