Suche nach Vermissten in Syrien: Kann das neue UNO-Gremium helfen?
Das internationale Genf könnte bald eine neue UNO-Einrichtung erhalten: Die UNO-Generalversammlung sprach sich am 29. Juni für die Schaffung eines Gremiums für vermisste Personen in Syrien aus. Die Zivilgesellschaft setzte sich für diesen Schritt ein. Aber es gibt Zweifel, ob eine solche Organisation wirklich etwas bewirken kann.
Seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 sind in Syrien mindestens 100’000 Menschen verschwunden. Die tatsächliche Zahl liegt vermutlich weitaus höher. Selbst wenn jemand als tot gilt, können die Angehörigen nicht trauern.
Yasmen Almashan gehört zu jenen, die immer noch nach vermissten Familienangehörigen suchen. Sie ist Kommunikationsmanagerin der in Berlin ansässigen Caesar Families AssociationExterner Link.
Diese Vereinigung von Familien setzt sich für Wahrheit und Gerechtigkeit im Fall ihrer in Syrien gewaltsam verschwundenen Angehörigen ein.
Der Verein ist nach den so genannten Caesar-FilesExterner Link benannt, einer Sammlung von Zehntausenden Fotos von Folteropfern aus den Gefängnissen des syrischen Regimes.
«Ich habe in der syrischen Revolutionsbewegung, die zum Krieg wurde, fünf Brüder verloren», sagt Almashan gegenüber SWI swissinfo.ch.
«Zwei von ihnen sind verschwunden – einer durch das Assad-Regime, sein Foto habe ich unter den Caesar-Fotos gefunden. Der andere wurde vom IS entführt, als sie 2014 meine Stadt Deir ez-Zor angriffen. Seitdem habe ich keine Informationen mehr über ihn.»
Die anderen drei Brüder seien 2012 bei einer regierungskritischen Demonstration von Scharfschützen getötet worden.
Eine Initiative der syrischen Zivilgesellschaft
Die Caesar Families Association ist eine der syrischen Gruppen von Opfern und ihren Familien (welche die «Charta für Wahrheit und Gerechtigkeit»Externer Link unterzeichnet haben), die sich für die UNO-Resolution eingesetzt haben.
Unterstützt wird sie von internationalen NGOs wie Impunity Watch, Human Rights Watch, Amnesty International und der International Federation for Human Rights.
Almashan sagt, dass zivilgesellschaftliche Gruppen seit etwa drei Jahren an dieser Idee arbeiten, einschliesslich Lobbyarbeit für politische Unterstützung.
Die Generalversammlung nahm die Resolution mit 83 Ja-Stimmen, 11 Nein-Stimmen und 62 Enthaltungen an. Die syrische Regierung stimmte dagegen und erklärte, es handle sich um einen «bizarren Mechanismus, der kein Mandat hat und als Vorwand benutzt wird, um mehr Druck auf Syrien auszuüben». Der syrische Vertreter erklärte zudem, seine Regierung sei nicht konsultiert worden.
Die Resolution sieht die Einrichtung einer «Unabhängigen Institution für die Vermissten in Syrien» vor. Diese soll «die Beteiligung und Vertretung von Opfern, Überlebenden und Familienangehörigen von Vermissten, einschliesslich Frauenorganisationen und der Zivilgesellschaft, sicherstellen und einen opfer- und überlebendenzentrierten Ansatz verfolgen».
Sie fordert den Generalsekretär der Vereinten Nationen auf, mit Unterstützung des Menschenrechtsbüros der Vereinten Nationen in Genf «innerhalb von 80 Arbeitstagen nach Annahme der Resolution das Mandat der unabhängigen Institution auszuarbeiten und die notwendigen Schritte zur Einrichtung dieser Institution zu unternehmen».
Seit Beginn des Syrien-Konflikts wurde der Sicherheitsrat, das höchste Organ der Vereinten Nationen, durch das Veto Russlands daran gehindert, energische Massnahmen zu ergreifen, um den Krieg zu beenden oder mutmassliche Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen. Das würde bedeuten, sie etwa an den Internationalen Strafgerichthof zu überweisen.
Sie hat jedoch einen in Genf ansässigen «Mechanismus» eingerichtet, den «International, Impartial and Independent Mechanism» (IIIM). Er soll Beweismaterial sammeln und sichern, um dieses in künftigen Verfahren verwenden zu können.
Der IIIM ist seit 2016 tätig. Er wurde im selben Jahr durch eine UNO-Resolution eingerichtet und hat das Mandat, «bei der Ermittlung und strafrechtlichen Verfolgung von Personen zu helfen, die für die schwersten Verbrechen in Syrien seit März 2011 verantwortlich sind».
Dieser «Mechanismus» hat möglicherweise einige seiner Erkenntnisse mit den nationalen Staatsanwaltschaften geteilt, da einige Syrien-Fälle nach dem Prinzip der «universellen Gerichtsbarkeit» behandelt wurden, besonders in DeutschlandExterner Link. Die Ergebnisse seiner Arbeit sind jedoch nicht sehr sichtbar.
Der Vertreter Luxemburgs, das die Resolution der Generalversammlung eingebracht hatte, erklärte vor dem UNO-Gremium, dass «die neue unabhängige Institution eine Ergänzung ist und Doppelarbeit vermeiden wird, während sie gleichzeitig die Koordination und Kommunikation mit allen relevanten Akteuren der laufenden Initiative sicherstellt».
In einer Erklärung am folgenden TagExterner Link begrüsste die Präsidentin des IIIM, die Französin Catherine Marchi-Uhel, das neue Gremium für vermisste Personen. Sie nannte es einen Durchbruch und erklärte, dass der IIIM bereit sei, mit ihm zusammenzuarbeiten.
Durchbruch oder gesichtswahrender Schachzug?
Die Frage, warum ein weiteres UNO-Gremium nötig istExterner Link, scheint jedoch berechtigt. Almashan von Caesar Families sagt, das neue Gremium sei eine «humanitäre» Initiative mit Beteiligung der Zivilgesellschaft.
Es basiere auf dem Recht der Familien der Opfer, die Wahrheit über ihre Angehörigen zu erfahren, und konzentriere sich auf die Suche nach Vermissten in Syrien unter aktiver Beteiligung der Opfer und ihrer Familien. Das IIIM hingegen konzentriere sich auf die Rechenschaftspflicht der Strafjustiz.
Anwar al-Bunni, ein syrischer Menschenrechtsanwalt, der sich in Deutschland mit Syrien-Fällen befasst hat, ist jedoch skeptischer: «Das Hauptmotiv hinter dieser Massnahme ist, das Gesicht zu wahren angesichts ihrer [der UNO] schweren Vernachlässigung des Leidens des syrischen Volks», sagt er gegenüber SWI swissinfo.ch.
«Es ist einfach ein Versuch, den Eindruck zu erwecken, dass sie etwas tun, während sie in Wirklichkeit nichts tun. Es ist ein Versuch, Zeit zu gewinnen angesichts der Komplexität der Situation und ihrer Lähmung durch das russische Veto.»
Er glaubt nicht, dass die syrische Regierung oder eine der Parteien in Syrien kooperieren wird. Somit werde das neue Gremium zahnlos bleiben. Es werde auch keine abschreckende Wirkung haben.
«Die grösste Waffe des Regimes sind Verhaftungen, Folter und Verschwindenlassen. Wenn das Regime aufhört, Menschen zu verhaften, wird es keine Minute mehr überleben.»
«Dieser Mechanismus wird keine Ergebnisse bringen», fährt Al-Bunni fort. «Genau wie der Internationale Mechanismus zur Beweissicherung, der zwar Beweise gesammelt hat. Aber was hat er damit gemacht?»
Das neue Gremium könne einzig das internationale Bewusstsein für das Problem der Gefangenen und Verschwundenen in Syrien schärfen.
Es könne auch als Referenz für Statistiken und Namen all dieser Personen für zukünftige Untersuchungen dienen, falls sich eine politische Lösung der Syrienkrise abzeichne.
Auch Fadel Abdul Ghani, Vorsitzender des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte, hofft, dass das neue Gremium «die Frage der Gefangenen und Verschwundenen bei allen künftigen politischen Gesprächen auf den Tisch bringen wird».
Ausserdem werde es den UNO-Sicherheitsrat regelmässig über das Thema informieren, womit es auf der internationalen Agenda bleibe, sagt er gegenüber swissinfo.ch.
«Es ist nicht zu erwarten, dass dieser Mechanismus zur Freilassung der Gefangenen oder zum Auffinden der Verschwundenen führen wird, vor allem nicht, wenn das Regime und andere Menschenrechtsverletzer in Syrien sich weigern, mit ihm zusammenzuarbeiten. Denn mit ihm zusammenzuarbeiten würde bedeuten, die Existenz der Verschwundenen und Gefangenen anzuerkennen, was letztlich eine Verurteilung des Regimes bedeutet.»
Auch Almashan bezweifelt, dass die syrische Regierung kooperieren wird. «Wir kennen das Regime und wissen, dass es das nicht akzeptieren wird», sagt sie.
«Aber in der Politik ändern sich die Dinge jeden Tag. Vielleicht lehnen sie heute ab, aber morgen akzeptieren sie. Vielleicht ändert sich das Regime, und es gibt eine Übergangsregierung, die kooperiert.»
Wie geht es weiter?
Quellen aus der UNO und der syrischen Zivilgesellschaft sagten SWI swissinfo.ch, dass der Standort des neuen Gremiums noch diskutiert werde. Andere UNO-Quellen sagten jedoch, Genf sei eine wahrscheinliche Option, besonders für die Koordination mit anderen Gremien.
Der IIIM hat seinen Sitz in Genf, ebenso wie die vom Menschenrechtsrat beauftragte Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien und der Sondergesandte des UNO-Generalsekretärs für Syrien.
Laut Anne Massagee, die von Beirut aus für das UNO-Menschenrechtsbüro arbeitet, «hat der Generalsekretär die Aufgabe, mit Unterstützung des Büros innerhalb von 80 Arbeitstagen das Mandat für die Institution auszuarbeiten. Wir befinden uns mitten in diesem Prozess». Ziel sei es, dass die neue Institution am 1. April ihre Arbeit aufnehme.
Was die Koordination betrifft, so sagte Massagee gegenüber SWI swissinfo.ch, dass diese von der neuen Führungsperson der neuen Institution für die Vermissten in Syrien ausgearbeitet werden müsse.
Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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