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«Frieden in Kolumbien nicht auf dem Buckel der Opfer»

Drei junge Männer tragen an einer Demonstration zwei schwarze Särge
Bogota, 9. April 2018: Aktivisten an einer Demonstration zum Nationalfeiertag der Erinnerung und Solidarität mit den Opfern des Konflikts in Kolumbien. Keystone

Auch ein Jahr nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen den Farc-Rebellen und der kolumbianischen Regierung warten zahlreiche Opfer des Bürgerkriegs noch auf Wahrheit und Gerechtigkeit. Trotz anhaltender Gewalt könnten sie heute nicht mehr überhört werden, sagt die Schweizer Anthropologin Mô Bleeker. Sie ist Sonderbeauftragte für den Frieden, im Auftrag des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten.

Seit mehr als zehn Jahren begleitet Mô BleekerExterner Link Kolumbien bei der Friedensförderung und der Aufarbeitung des Bürgerkriegs. Der bewaffnete Konflikt hatte während 50 Jahren für Angst und Schrecken im Land gesorgt. Trotz Waffenniederlegung der Farc dauert der Konflikt an, weil sich nicht alle Rebellengruppen ans Friedensabkommen halten.

Das Abkommen führte unter anderem zur Schaffung von neuen Institutionen, die Licht in die Gewalttaten bringen sollen. Dies weckte bei den Opfern grosse Hoffnungen. Doch welche Rolle spielt die Erinnerung im Kontext des Konflikts? Wie kann man den Erwartungen der Opfer gerecht werden? swissinfo.ch sprach darüber mit der Schweizer Anthropologin Mô Bleeker.

«Die grosse Herausforderung ist, die verschiedenen Bedürfnisse der Opfer zu verstehen.»

swissinfo.ch: Der Friedensvertrag zwischen der kolumbianischen Regierung und den Farc-Rebellen sieht eine ganze Reihe von Massnahmen vor, um den Opfern des Bürgerkriegs Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu garantieren. Welche Zwischenbilanz ziehen Sie eineinhalb Jahre nach der Unterzeichnung des Abkommens?

Mô Bleeker: Kolumbien ist es gelungen, in relativ kurzer Zeit die drei in den Abkommen vorgesehenen Institutionen zu errichten: den Sondergerichtshof für den Frieden (Jurisdiccion Especial para la paz, JEP), die Wahrheitskommission und die Gruppe zur Suche nach Vermissten («Desaparecidos»).

Auch wenn die Institutionen noch nicht voll einsatzfähig sind, wurden die jeweiligen Verantwortlichen ernannt. Und wie mir gesagt wurde, glauben diese, über ausreichende Garantien zu verfügen, um ihre Arbeit weiterführen zu können. Dies, trotz der starken politischen Polarisierung und der Tatsache, dass der bewaffnete Konflikt andauert.

Man darf nicht vergessen, dass Kolumbien anders als andere Länder die Arbeit der Aufarbeitung schon während des Bürgerkriegs begonnen hat, als es 2006 im Rahmen des Gesetzes für Gerechtigkeit und Frieden, das die Waffenniederlegung von Paramilitärs vorsah, die Gruppe des Historischen Gedächtnisses schuf (heute: Nationales Zentrum des Historischen Gedächtnisses). Die Gruppe hat Dutzende von Fällen analysiert, die sinnbildlich für den Konflikt sind.

Seitdem haben die Opfer das Wort ergriffen, und heute sind diese derart präsent im öffentlichen Raum, dass die Opfer des Konflikts in Kolumbien nicht mehr geleugnet werden können. Und das ist keineswegs selbstverständlich.

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swissinfo.ch: Die Schaffung des Sondergerichtshofs für den Frieden und der Gruppe zur Suche nach Vermissten hat unter den Opfern wieder Hoffnung auf Wahrheit und Gerechtigkeit geweckt. Diese Institutionen können aber nur mit so genannt sinnbildlichen Fällen arbeiten. Besteht da nicht die Gefahr, dass die Erwartungen der Opfer enttäuscht werden?

M.B.: Es ist klar, dass diese Institutionen eine Auswahl treffen und Synergien nutzen müssen, um sicherzustellen, dass die Opfer nicht enttäuscht werden. Und das ist auch das Ziel der Unterstützung, welche die Schweiz diesen Institutionen bietet.

Die grosse Herausforderung ist, die verschiedenen Bedürfnisse der Opfer zu verstehen: Damit sie sich am Ende des Prozesses anerkannt fühlen, verstehen, was geschehen ist, eine akzeptable Wiedergutmachung erhalten, wissen, dass die Verantwortlichen bestraft werden und vor allem Garantien haben, dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen.

Dieses Szenario ist noch in weiter Ferne. Aber ich bin überzeugt, dass die Verantwortlichen dieser drei Institutionen alles dafür tun werden, eine gute Arbeit zu machen.

Dann darf man nicht vergessen, dass die Bevölkerung in jenen Regionen, wo der bewaffnete Konflikt weitergeht, Angst hat. Das macht diese Aufarbeitungs-Übung extrem heikel. Damit die Wahrheit nicht Menschenleben in Gefahr bringt, sind besondere Schutzmassnahmen nötig, angepasst an die unterschiedlichen regionalen Gegebenheiten. Der Frieden in Kolumbien darf nicht auf dem Buckel der Opfer erreicht werden, sondern gemeinsam mit ihnen.

«Der Staat muss in der Lage sein, seine Schutzverantwortung wahrzunehmen und den Bedürfnissen aller Bürgerinnen und Bürger nachzukommen.»

swissinfo.ch: Sie haben die Waffenniederlegung der Paramilitärs seit 2006 begleitet. Welche Lektionen kann man aus dem derzeitigen Prozess der Waffenniederlegung der Farc und dem Recht der Opfer auf Wahrheit und Gerechtigkeit ziehen?

M.B.: Ein Waffenniederlegungs-Prozess besteht nicht allein daraus, dass jemand seine Waffen abgibt, sondern dass sich diese Person auch dazu entscheidet, nicht mehr zur Waffe zu greifen, dass sie wieder in die Gesellschaft integriert wird und auf die eine oder andere Weise Verantwortung für ihr Handeln übernimmt.

Nun haben in Kolumbien nicht alle nichtstaatlichen Bewaffneten ihre Waffen abgegeben. Und viele Täter von grausamen Verbrechen, die nicht durch Wiedereingliederungs-Programme abgedeckt sind, haben die Taten noch nicht zugegeben oder wollen ihre Verantwortung nicht auf dem Weg der Straf- oder Verwaltungsgerichtsbarkeit anerkennen.

Der Waffenniederlegungs-Prozess der Paramilitärs zeigte zudem das andere Risiko auf: Falls den Kämpfern keine glaubwürdige Alternative geboten wird, angefangen bei menschenwürdiger Arbeit, gehen sie zurück in die organisierte Kriminalität.

Das Phänomen ist in Kolumbien massiv und führte zur Entstehung neuer bewaffneter Banden, den so genannten BACRIM. In einigen Landesteilen ist der Staat praktisch inexistent, was den kriminellen Banden einen grossen Handlungsspielraum ermöglicht.

Damit Kolumbien zu einem dauerhaften Frieden gelangen kann, muss der Staat in der Lage sein, seine Schutzverantwortung wahrzunehmen und den Bedürfnissen aller Bürgerinnen und Bürger nachzukommen. Dies ist eine der grossen Herausforderungen für einen Frieden in Kolumbien, der diesen Namen auch verdient.

Mô Bleeker

Sie studierte an der Universität Freiburg Anthropologie, Religionswissenschaft und soziale Kommunikation. Seit über vierzig Jahren engagiert sich Mô Bleeker in Friedensprozessen von Konfliktländern, in Gebieten wie Kolumbien, Mittelamerika, Afrika und Südostasien.

Von 2011 bis 2017 war sie Sondergesandte des Schweizerischen Aussenministeriums (EDA) für Vergangenheitsbewältigung und Prävention von Gräueltaten.

Ihr Engagement in Kolumbien begann 2006 auf Wunsch des damaligen Präsidenten Alvaro Uribe. Dies im Rahmen der Umsetzung des Gesetzes für Gerechtigkeit und Frieden und die Waffenniederlegung der Paramilitärs.

Bleeker begleitete namentlich die Schaffung der Nationalen Kommission für Wiedergutmachung und Versöhnung (CNNR) und der Gruppe des Historischen Gedächtnisses (GHM, heute: Nationales Zentrum des Historischen Gedächtnisses, CNMH). Von 2011 bis 2017 war sie Vorsitzende des Internationalen Rats dieses Zentrums.

Im März 2017 wurde Bleeker vom EDA zur Sonderbeauftragten für den Friedensprozess und die humanitäre Sicherheit in Kolumbien ernannt.

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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