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Syrien oder Opposition will gelernt sein

Syrische Rebellen feiern in Aleppo die Eroberung einer Polizeiwache (Bild vom 3. August 2012). AFP

Trotz unablässiger Treffen tun sich in Syrien die verschiedenen Gruppen der Assad-Gegner nach wie vor schwer, sich zu einer einheitlichen Opposition gegen das Regime zu formieren. Derweil äussern sich drei Experten zu Szenarien nach einem Sturz des Despoten.

Die zunehmende Militarisierung des Konflikts hat laut Heiko Wimmen zwei Dynamiken in Gang gesetzt: Der Forscher der unabhängigen Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin sieht einerseits  einen aufkeimenden politischen Prozess, der zur Stärkung des zivilen Widerstandes geführt habe.

Andererseits würden aussenstehende Akteure wie Saudiarabien und Katar immer einflussreicher, «weil die Rebellen immer mehr Waffen benötigen, ihre Ressoucen aber begrenzt sind», sagt Wimmen gegenüber swissinfo.ch.

Drohende Eskalation

Je länger der Konflikt dauere, desto mehr bewaffnete Gruppen belasteten die Nach-Assad-Ära, gibt der Deutsche zu bedenken. «Entweder schliessen sich die Rebellengruppen zusammen, oder sie verwandeln sich unter der Führung von Warlords in unkontrollierbare Milizen mit eigenen Territorien, Einkünften und Gesetzen», skizziert Wimmen.

Nach dem Sturz des Regimes von Bachar el-Assad müsse man diese Kriegsfürsten an den Verhandlungstisch bringen und ihnen im neuen Syrien einen Platz geben. Im Hinblick auf ein demokratisches Syrien sei das keine gute Perspektive.

«Die wahren Entscheidungsträger wären jene, welche die Rebellengruppen finanziell unterstützen, also neben Saudiarabien und Katar auch die Türkei. Die verbleibenden loyalen Truppen der Armee würden zu einem Instrument des Iran», glaubt Wimmen.

Ein fast noch grösserer Schatten auf der Zukunft des Landes ist das Auftreten terroristischer Gruppen. Yves Besson, ehemaliger Schweizer Diplomat, schätzt die Bedrohung durch Dschihadisten-Gruppen als real ein. Auf wessen Befehle diese handelten, sei nur für Geheimdienste zu identifizieren.

«Bei den Islamisten, die zwischen 2005 und 2007 nach Syrien kamen, handelt es sich oft um Syrer, die für die al-Kaida im Irak kämpften, es sind also gewissermassen Rückkehrer», so Besson.

Klare Strukturen schaffen

Auch Heiko Wimmen bereiten die islamistischen Kämpfer Sorgen. «Die bewaffneten Widerstandsgruppen sind daran, sich in Strukturen mit klaren Verantwortlichkeiten zu organisieren, damit klar ist, wer im Kampf wofür zuständig ist. Gelingt ihnen dies, sollte es leichter fallen, die Terroristen zu isolieren.»

Hasni Abidi, Direktor des Forschungszentrums über den arabischen und mediterranen Raum in Genf, hält die zahlreichen Sitzungen in Kairo, Rom oder Berlin von Vertretern der Opposition für bemerkenswert. «Dabei kommen die grossen Differenzen zum Ausdruck, welche die Teilnehmer für die Zeit nach Assad haben», sagt der Arabist. «Die Oppositionellen müssen erst lernen, miteinander zu verhandeln.»

Ursprünglich sei der Syrische Nationalrat konzipiert worden, um für die Opposition eine einheitliche Plattform zu schaffen. Verhandlungen dieses Gremiums mit anderen Gruppen von Assad-Gegnern, so etwa den syrischen Kurden, seien aber gescheitert. «Seither ist eher eine Fragmentierung denn eine Vereinheitlichung zu beobachten», sagt Abidi.

Lektion im Verhandeln

Statt die unterschiedlichen Gruppen im Nationalrat unter einen Hut bringen zu wollen, hätte es vermutlich mehr gebracht, am runden Tisch nach Gemeinsamkeiten zu suchen, sagt Heiko Wimmen.

Laut Hasni Abidi krankt die Opposition auch daran, dass sie vorwiegend in Syrien stark ist, ausserhalb aber wenig Beachtung findet. «Die lokalen Koordinations-Komitees gewinnen zunehmend an Bedeutung und beanspruchen die Nähe zur Bevölkerung. Der Nationalrat dagegen umfasst hunderte Personen, um sämtliche Strömungen abzudecken, und das sorgt für riesige Probleme.»

Als Folge dieser geteilten Repräsentativität würden die Regierungen des Westens auch keine legitimen Gesprächspartner aus den Reihen der Opposition anerkennen, gibt der Islamwissenschaftler zu bedenken.

Die Zersplitterung bedeutet aber nicht nur eine Schwächung der Opposition im militärischen Kampf, sie drückt laut Abidi umgekehrt auch eine demokratische Realität aus. «Die Opposition ist mit Ausnahme der Muslimbrüder deshalb auseinandergebrochen, weil sie die Opposition entdeckt hat. Der Aufstand erlaubt die Herausbildung einer Opposition, die es zuvor in der Dynastie Assad nicht gegeben hat.»

Genau hier liegt für Yves Besson eine grosse Gefahr. «Syrien hat, was das Chaos angeht, das x-fache Potenzial des Libanons. Dort wird die Instabilität seit Jahrzehnten durch Formen relativer Demokratie ausgeglichen. Das einzige Mal, als dies nicht gelungen ist, endete dies in einem Bürgerkrieg.»

Rund sechs Monate lang hatten sich in der deutschen Hauptstadt Berlin rund 50 Vertreter verschiedener syrischer Oppositionsgruppen versammelt.

Die Verhandlungen wurden vom amerikanisches Friedensinstitut (USIP) und der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik angeregt.

Unter dem Titel «The Day After» (Der Tag danach) hatten die Gespräche zum Ziel, konkrete Massnahmen für die ersten Tage nach dem Sturz des syrischen Regimes zu definieren, um zu vermeiden, dass das Land in ein politisches und wirtschaftliches Chaos sinken würde.

Gemäss dem Genfer Arabisten Hasni Abidi waren diese Versammlungen nicht politischer, sondern eher pädagogischer Natur. Empfehlungen sollen Ende August in Berlin veröffentlicht werden.

Das schweizerische Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA hat für die Logistik in Berlin 50’000 Euro beigesteuert. Dazu EDA-Sprecher Pierre-Alain Eltschinger: «In Einklang mit den Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates und der Deklaration der Genfer Aktionsgruppe unterstützt die Schweiz die Bemühungen, die in Syrien einen friedlichen und geordneten Übergang zum Ziel haben.»

Der EDA-Sprecher weiter: «Die Verfassung eines Übergangsplans durch eine Gruppe, die alle Bevölkerungsteile Syriens repräsentiert, entspricht diesem Ziel. Die Ausarbeitung dieses Übergangsplans, der die Logik eines möglichen Friedens aufzeigt, wurde von Syrern verschiedener Tendenzen realisiert während der unter der Leitung der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin geführten Diskussionen.»

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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