Tessiner Burka-Entscheid könnte Schule machen
Das massive Ja im Kanton Tessin zu einem Burka-Tragverbot in der Öffentlichkeit wird voraussichtlich zu einer nationalen Volksinitiative mit einem ähnlichen Anliegen führen. Ein Teil der Muslime und die Menschenrechts-Organisationen in der Schweiz sehen einen neuen Angriff auf die muslimische Gemeinschaft, wie bereits 2009 bei der Annahme der Minarett-Initiative.
Am letzten Sonntag hat das Tessin als erster Schweizer Kanton das Tragen von Burka und Niqab im öffentlichen Raum verboten. Das deutliche Resultat (über 65% Ja-Stimmen) gibt nun jenen Kreisen Aufwind, die ein solches Verbot in der ganzen Schweiz einführen möchten.
«Der Text ist bereit. Er ist angelehnt an jenem der aargauischen Kantonal-Initiative, die von den Eidgenössischen Räten 2012 abgelehnt wurde und ein Vermummungsverbot in der Öffentlichkeit anvisierte», sagte Ulrich Schlüer, ehemaliger Nationalrat der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) und Vater der Minarett-Initiative von 2009, in der Westschweizer Zeitung Le Temps.
SVP-Nationalrat Walter Wobmann, Präsident des Egerkinger-Komitees, das die Minarett-Initiative zum Erfolg geführt hatte, erklärte gegenüber dem Westschweizer Fernsehen (RTS), die Sammlung der nötigen 100’000 Unterschriften für eine solche Volksinitiative würde ohne Zweifel nächsten Frühling beginnen. Der Text würde ähnlich den bereits in Frankreich (2010) und Belgien (2011) angenommenen Gesetze formuliert. Er richte sich klar gegen die islamische Vollverschleierung.
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Erst in ein paar Jahren
Eine mögliche Abstimmung würde erst in ein paar Jahren durchgeführt, doch die Initiative könnte im Wahlkampf für die Wahlen 2015 eingesetzt werden.
SVP-Vizepräsident Claude-Alain Voiblet begrüsst den Entscheid des Tessiner Stimmvolks, «der klar zeigt, dass die SVP Klarsicht beweist, wenn sie die Integrationsprobleme in diesem Land anprangert».
Von den Aktionen von Mitgliedern des Egerkinger-Komitees, das von der wählerstärksten Partei der Schweiz unabhängig sei, distanziert er sich allerdings: «Im Moment wurde innerhalb der Partei noch nichts unternommen, um eine nationale Volksinitiative zu lancieren. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass die SVP einen solchen Text unterstützen wird.»
Grundsätzlich ist Voiblet absolut überzeugt von der Rechtmässigkeit eines solchen Verbots: «In unserer jüdisch-christlichen Gesellschaft können wir nicht akzeptieren, dass Frauen solche Kleidung tragen müssen.»
Das Anliegen findet auch bei einigen Parlamentariern aus dem Mitte-Rechts-Lager Zuspruch. «Die Burka ist weder mit unseren Werten, noch mit dem Ziel der Integration kompatibel», sagte Christophe Darbellay, Präsident der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP), in Le Nouvelliste. «Ich kann eine Touristin und eine Person, die in der Schweiz leben will und von der man die Integration verlangt, auseinanderhalten.»
Bevor sie in Kraft gesetzt wird, braucht die am Sonntag vom Tessiner Stimmvolk gutgeheissene Initiative für ein Burka-Trageverbot noch die Zustimmung des Eidgenössischen Parlaments. Dies wird laut der Tessiner Staatskanzlei mindestens 2 Jahre dauern.
Im Normalfall wird ein Gesetz durch das Parlament gutgeheissen. Mehrere vom Tages-Anzeiger befragte Experten schätzen allerdings, dass das Burka-Verbot möglicherweise von Eidgenössischen Gerichten widerrufen werden könnte. Das Verbot sei unverhältnismässig, verstosse vermutlich gegen die Religionsfreiheit und basiere nicht ausreichend auf einem überwiegenden öffentlichen Interesse, heisst es.
Gegenwärtig gibt es kein Urteil des Bundesgerichts, des höchsten Schweizer Gerichts, zu diesem Thema. Die grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs sollte sich bis Ende Jahr zu Klagen aus Frankreich äussern, die nach der Inkraftsetzung des Vermummungsverbots 2010 eingereicht wurden.
«Es handelt sich um eine Frage der Sicherheit», erklärte sein Parteikollege, Ständerat Urs Schwaller, im Tages-Anzeiger. «Die Polizei muss Personenkontrollen durchführen und das Gesicht sehen können.»
«Gefängnis aus Stoff»
Eine weitere Speerspitze der Anti-Minarett-Initiative, der Walliser SVP-Nationalrat Oskar Freysinger, wettert ebenfalls vehement gegen die Burka, «dieses Gefängnis aus Stoff, das nur die sichtbare Form eines dogmatischen Gefängnisses ist». 2010 sah seine Motion «Runter mit den Masken!» ein ähnliches Verbot vor. Das Parlament lehnte diese ab, der Ständerat befand, die Kantone könnten selbst entscheiden, ob sie auf ihrem Boden aus Gründen der Sicherheit Vermummungsverbote einführen wollten oder nicht.
Besonders im Hinblick auf seine neue Rolle als Walliser Staatsrat (Kantonsregierung) betont Freysinger, «über die Formulierung des Textes zu diskutieren, um einen neuen Religionskrieg zu verhindern». Doch sollte sich das Parlament weiterhin weigern, «über Situationen des Alltagslebens, in denen man von einem Bürger erwarten kann, dass er sein Gesicht zeigt», keine Gesetze auszuarbeiten, habe die Volksinitiative eine klare Chance, vom Schweizer Stimmvolk angenommen zu werden.
«Image beschmutzt»
Die Aussicht auf eine solche Debatte auf nationalem Niveau sorgt bei den Menschenrechts-Organisationen für Sorgenfalten. Sie waren praktisch die einzigen, die sich gegen die Tessiner Initiative eingesetzt hatten. «Das Tragen der Burka ist ein Pseudo-Problem, das für politische Zwecke instrumentalisiert wird», sagt Nadia Boehlen, Sprecherin der Schweizer Sektion von Amnesty International.
«Die Befürworter eines Verbots geben vor, gegen die Intoleranz zu kämpfen, doch sie schüren damit nur einen fremdenfeindlichen und islamophoben Diskurs. Zudem riskieren sie erneut, dass das Image der Schweiz in den muslimischen Ländern beschmutzt wird.»
Der Grüne Nationalrat Ueli Leuenberger spricht von einer «ideologischen und irrationalen Kampagne über ein nicht existierendes Thema».
Der französische Geschäftsmann Rachid Nekkaz würde für im Tessin gebüsste verschleierte Frauen das allfällige Bussgeld übernehmen. Dies teilte er am Dienstag persönlich mit. Er unterhält bereits einen Millionen-Fonds für betroffene Frauen in Frankreich und Belgien. Beide Länder kennen ein Burka-Verbot.
Den Fonds, den er 2010 mit einer Million Euro äufnete, diene der Verteidigung der Freiheit und der religiösen Neutralität des Staates, teilte Nekkaz weiter mit. Bislang habe er 682 Bussen in der Höhe von 123’000 Euro (152’000 Fr.) beglichen.
Er bezeichnet sich als Menschenrechts-Aktivisten und Gegner von Verschleierungen. Nekkaz setzt jedoch die persönliche Freiheit über alles. Indem er öffentlich die Bussen der Frauen bezahle, die auf den Strassen ihren Niqab tragen, will er «Regierungen und Parlamente lächerlich machen», welche fundamentale Freiheiten nicht respektierten, schreibt er weiter.
(Quelle: SDA)
«Neue Form des Kreuzzugs»
Nadia Karmous, Präsidentin der kulturellen Assoziation muslimischer Frauen der Schweiz, spricht von «einer neuen Form des Kreuzzugs». Gemäss ihren Informationen leben in der Schweiz –Diplomatengattinnen und Touristinnen ausgenommen – lediglich etwa ein Dutzend Frauen, die sich voll verschleierten. Der Grossteil seien zum Islam übergetretene Schweizerinnen.
«In Frankreich und Belgien haben die Frauen als Reaktion auf das Gesetz angefangen, den Vollschleier zu tragen. Ein Verbot schafft mehr Probleme, als es lösen würde», betont sie.
Karmous bekräftigt, die bereits durch die sehr emotional geführte Kampagne über das Minarett-Verbot erschwerte Integrationsarbeit könne in der Perspektive einer nationalen Abstimmung über ein Burka-Verbot noch schwieriger werden: «Viele Muslime, die für den interreligiösen Dialog bereit waren, haben sich zurückgezogen, besinnen sich mehr auf ihre Familie und werden noch mehr Mühe damit haben, sich zu integrieren und gegenüber anderen zu öffnen.»
Oskar Freysinger weist «Diskriminierung oder Rassismus gegenüber der arabischen Welt» weit von sich. Im Gegenteil, unterstreicht der Walliser, «wir wollen, dass diese Frauen europäische Bürgerinnen werden, wie es unsere Frauen sind. Deshalb kämpfen wir gegen ein Patriarchat, gegen eine brutale Geschlechtertrennung. Ich bin erstaunt, dass linke Kreise solche Dinge verteidigen».
Worauf Nadia Karmous entgegnet: «Diese Politiker sind weder Helden noch Zorros, die sich für die muslimische Frau einsetzen. Sie würden sich gescheiter den grossen Dingen zuwenden wie etwa dem Krieg in Syrien, statt neue Ammenmärchen zu erfinden.»
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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