Thomas Greminger: «Die internationale Gemeinschaft hat es versäumt, die Probleme der Palästinenser:innen anzugehen»
Der Schlüssel zur Lösung komplexer Konflikte liege in der konstruktiven Zusammenarbeit von Staaten und Nicht-Staaten, sagt Thomas Greminger, Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik, im Interview mit SWI swissinfo.ch.
Thomas Greminger, derzeit Leiter des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik (GCSP), ist Schweizer Diplomat und ehemaliger Direktor der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).
Vor dem Hintergrund seiner jahrzehntelangen Erfahrung in Verhandlungen mit militanten Gruppen wie der Hamas diskutiert er die Herausforderungen und Chancen, die sich aus der Zusammenarbeit mit staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren im Rahmen von Friedensverhandlungen ergeben. Er argumentiert, die Schweiz habe in der internationalen Konfliktlösung weiterhin eine Rolle zu spielen.
SWI swissinfo.ch: Als Schweizer Diplomat waren Sie Anfang der 2000er-Jahre direkt an Verhandlungen mit Mitgliedern der Hamas beteiligt. Wie hat diese Erfahrung Ihr Verständnis des Nahostkonflikts und möglicher Lösungsstrategien geprägt?
Thomas Greminger: Damals zeigte sich die gemässigtere Fraktion der Hamas interessiert an internationaler Anerkennung und Engagement.
Sie schien offen für einen langfristigen Waffenstillstand, die Anerkennung Israels und die Arbeit an einer Zweistaatenlösung, welche die Einstellung des Raketenbeschusses auf Israel im Gegenzug für verbesserte Bedingungen für die palästinensische Bevölkerung wie etwa weniger Schikanen an den Checkpoints vorsah. Unser strategisches Ziel war es, diese gemässigten Kräfte zu stärken.
Für die Konfliktlösung ist es wichtig, jene Gruppen zu identifizieren, die internationale Anerkennung suchen und aus der Isolation ausbrechen wollen. Die Strategie der Schweiz bestand darin, mit diesen potenziell konstruktiven Gruppen in Kontakt zu treten, um deren Einfluss auf radikalere Elemente zu verstärken. Dieser Ansatz war Teil unseres umfassenderen Dialogs mit islamischen Gruppen in der Region.
2008 verfasste die Schweiz das «Schweizer Dokument», eine Absichtserklärung, die den Weg für Gespräche zwischen Israel und der Hamas ebnete. Wie hat sich die Rolle der Schweiz von einer privilegierten Partnerin in den Verhandlungen mit der Hamas zur Unterstützerin der Einstufung dieser Gruppe als Terrororganisation entwickelt?
Das ist eine wichtige Frage. Im Lauf der Zeit hat es die internationale Gemeinschaft versäumt, die grundlegenden Probleme der Palästinenserinnen und Palästinenser anzugehen, und sie hat ihre Wahrnehmung der Hamas verändert.
Sie betrachtete die Hamas zunehmend als terroristische Gruppierung, und radikale Elemente innerhalb der Bewegung gewannen allmählich die Oberhand.
Der Schweizer Dialog mit der Hamas wurde zwar nie ganz eingestellt, doch nach 2008, als wichtige internationale Akteure wie die Europäische Union beschlossen, sich nicht mehr am Prozess zu beteiligen, verlagerte sich der Schwerpunkt vom politischen auf den technischen Bereich.
Der Bundesrat will die Hamas offiziell als terroristische Organisation einstufen. Arbeitet die Schweiz weiterhin mit der Hamas zusammen?
Nach den brutalen Attentaten vom Oktober und den Gräueltaten der Hamas, die eindeutig terroristischer Natur waren, musste der Bundesrat ein klares Zeichen setzen und die Hamas als terroristisch einstufen.
Die schweizerische Gesetzgebung sieht jedoch verschiedene Möglichkeiten vor, um eine Gruppe zu bezeichnen, und einige Methoden würden wahrscheinlich immer noch einen diskreten Dialog hinter den Kulissen ermöglichen, wenn dies zu einem bestimmten Zeitpunkt als nützlich erachtet wird.
>> «Die Hamas zur Terrororganisation zu erklären, widerspricht der Neutralität der Schweiz»
Könnte die Schweiz angesichts der jüngsten Forderungen der internationalen Gemeinschaft eine Rolle bei der Mässigung der militärischen Reaktion Israels spielen?
Als Verfechterin des humanitären Völkerrechts muss die Schweiz darauf drängen, dass Israel dessen Prinzipien einhält, darunter den Schutz der Zivilbevölkerung und speziell das Prinzip der Verhältnismässigkeit.
Dies sollte über bilaterale Kanäle, über multilaterale Plattformen wie den UNO-Sicherheitsrat sowie über stille und öffentliche Diplomatie geschehen.
Südafrika hat die Verurteilung Israels wegen Völkermords vor dem Internationalen Gerichtshof beantragt. Wie beurteilen Sie die aktuelle Rolle der Schweiz beim Schutz des Völkerrechts und des humanitären Völkerrechts, besonders als Depositarstaat der Genfer Konventionen?
Die Schweiz ist in der Tat deutlicher geworden, wenn es darum geht, Israel eine klare Botschaft bezüglich der Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu übermitteln.
Das juristische Vorgehen des Internationalen Gerichtshofs in diesem Konflikt ist zwar wichtig, kann aber die Palästinafrage nicht grundsätzlich lösen.
Ein politischer Prozess und das Engagement der Parteien vor Ort, einschliesslich Israels und wichtiger Akteure wie der USA und Europas, sind für eine nachhaltige politische Lösung unerlässlich.
Glauben Sie, dass die Zurückhaltung der Europäischen Union (EU) gegenüber der Hamas die Friedensaussichten in der Region beeinträchtigt hat?
Wenn wir darüber nachdenken, müssen wir uns fragen, was hätte sein können. Als die Schweiz vor fast 20 Jahren den Dialog mit der Hamas aufnahm, hoffte sie, dass die EU irgendwann an Bord kommen würde.
Ein Engagement der EU hätte die Hamas möglicherweise zur Mässigung bewegen und so zu konstruktiveren Ergebnissen führen können. Aber das ist Spekulation, und wir können uns des Ergebnisses nicht sicher sein.
Gibt es eine spürbare Diskrepanz zwischen den offiziellen Positionen der Regierungen, namentlich der EU und der USA, und der öffentlichen Meinung zum aktuellen Konflikt?
Ja, es gibt eine Kluft. Einerseits sind die Menschen verständlicherweise tief betroffen von den Zerstörungen und den zivilen Opfern des Kriegs in Palästina.
Andererseits konzentrieren sich die westlichen Regierungen, beeinflusst von der Sichtweise der israelischen Regierung, darauf, die Hamas zu besiegen. Dies steht im Gegensatz zur Wahrnehmung in der arabischen Welt und in weiten Teilen des globalen Südens.
Dieser Widerspruch zwischen der emotionalen Reaktion auf die menschlichen Kosten des Konflikts und den geo- und sicherheitspolitischen Erwägungen, die hinter den Positionen der Regierungen stehen, sollte uns jedoch nicht überraschen.
Manche sagen, dass das Völkerrecht und das humanitäre Recht die Hauptopfer des gegenwärtigen Kriegs sind. Glauben Sie, dass dies die Wahrnehmung der Menschenrechte als universell und als Garantie für Sicherheit und Würde untergräbt?
In den letzten Jahrzehnten hat es immer wieder schwere Verletzungen des Völkerrechts gegeben. Das ist nichts Neues.
Besorgniserregend ist jedoch der neuere Trend, Konflikte militärisch zu lösen. Er untergräbt weiter eine Weltordnung, die auf dem Völkerrecht und gemeinsam vereinbarten Regeln beruht.
Der Übergang von einer unipolaren Welt unter Führung der USA zu einer multipolaren Welt, in der die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und die Länder des globalen Südens eine wichtigere Rolle spielen, hat bisher zu einem chaotischeren und instabileren System geführt, das die Berechenbarkeit der bisherigen regelbasierten Ordnung untergräbt.
Glauben Sie, dass die Schweiz angesichts neuer Akteure wie Katar und Saudi-Arabien in der Konfliktmediation an Einfluss verloren hat?
Die Welt der Konfliktmediation entwickelt sich weiter, und es ist positiv, dass neue Vermittler und Mediatoren auf den Plan treten. Anstatt einen Einflussverlust zu befürchten, sollte die Schweiz die Komplementarität mit diesen neuen Akteuren suchen.
Es gibt verschiedene Ansätze, die bei der Vermittlung zwischen Konfliktparteien erfolgreich sein können. Manchmal funktioniert die traditionelle Mediation, manchmal braucht es dafür einen mächtigen oder einfallsreichen regionalen Akteur.
Essenziell ist in jedem Fall das Vertrauen der Parteien in den Mediator. Deshalb ist es so wichtig, in Anlaufstellen für Konfliktlösung zu investieren. Das bedeutet, Vertrauen zu den Konfliktparteien aufzubauen, was oft ein langwieriger Prozess ist.
Wie beurteilen Sie den Zehn-Punkte-Friedensplan des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski, der am World Economic Forum (WEF) in Davos diskutiert wurde?
Der Plan der ukrainischen Regierung ist ein legitimer Versuch, internationale Unterstützung für ihr Konzept zur Beendigung des Kriegs zu mobilisieren. Aber jeder formelle Friedensprozess wird Russland einbeziehen müssen.
Insofern wird das tatsächliche Ergebnis eines ausgehandelten Friedensprozesses anders aussehen, als es die Parteien zu Beginn fordern.
>> Ukraine und Schweiz drängen in Davos auf Unterstützung des Friedensplans
Gibt es Ihrer Erfahrung nach wesentliche Unterschiede in der Verhandlungstaktik im Umgang mit bewaffneten Gruppen wie der Hamas im Vergleich zu Staaten in Konflikten wie Russland oder der Ukraine?
Es gibt auf jeden Fall grosse Unterschiede. Wenn man mit Staaten verhandelt, gibt es formale Kommunikationskanäle und etablierte Konfliktlösungsmechanismen. Bei Verhandlungen mit nichtstaatlichen Akteuren stellt sich dagegen sofort die Frage nach der Anerkennung ihres politischen Status.
In einem stark polarisierten politischen Umfeld sind formelle Kommunikationskanäle und Konfliktlösungsmechanismen zwischen Staaten jedoch schnell blockiert.
Wenn nichtstaatliche Akteure als Stellvertreter von Staaten agieren, verschwimmen zudem die Unterschiede zwischen einem Prozess zwischen formal staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren.
Die Schaffung eines stabilen Dialogkanals ist daher in beiden Fällen oft die grösste Herausforderung zu Beginn eines Prozesses.
Editiert von Virginie Mangin/livm, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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