«Tour de Tunisie» oder mit dem Velo gegen Wahlabstinenz
Wenige Tage vor den Wahlen zieht eine Gruppe junger Leute per Bus oder Velo durch ländliche Regionen, um die Bevölkerung zu ermuntern, ihre Stimme abzugeben. Ob der Übergang Tunesiens zu einer Demokratie gelingt, hängt auch von der Stimmbeteiligung ab.
Rund zwei Dutzend Aktivisten des tunesischen Netzwerks Lam Echaml sind am 12. Oktober in Tunis gestartet, um während 10 Tagen per Bus oder Velo durch die 24 Provinzen (vergleichbar mit Schweizer Kantonen) des nordafrikanischen Landes zu ziehen. Sie rufen die Bewohner der ländlichen Region auf, an den Parlamentswahlen vom 26. Oktober, sowie an den Präsidentschaftswahlen, für die ein erster Wahlgang am 23. November vorgesehen ist, teilzunehmen. Fast vier Jahre nach der Revolution vom 14. Januar 2011 sollen diese Wahlen das Ende der Übergangszeit besiegeln, den Übergang zur Demokratie bestätigen und Stabilität wiederherstellen. Aber die Wahlabstinenz könnte dabei zum Störenfried werden.
Schweiz unterstützt Wahlen
Wie bereits bei den Wahlen für die verfassunggebende Nationalversammlung von 2011 unterstützt die Schweiz auch die Durchführung der tunesischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2014. Die Eidgenossenschaft hat dafür 2,3 Millionen Franken bereitgestellt. Für die Wahlen von 2011 hatte sie 1,2 Mio. gesprochen. Mit dem Geld werden Organisationen unterstützt, die zu einer reibungslosen Durchführung des Wahlprozesses beitragen. Der Bund finanziert zum Beispiel die 18’000 Urnen.
Die Schweiz hat ihr Engagement in Tunesien nach der Revolution vom 14. Januar 2011 stark ausgebaut. Sie hat ein Unterstützungsprogramm für den Übergangsprozess geschaffen. Koordiniert wird es von der Abteilung «Internationale Zusammenarbeit», die auf der Schweizer Botschaft in Tunis zum Einsatz kommt, sowie durch zwei regionale Büros in Kasserine und Médenine.
Der jährliche finanzielle Beitrag wurde zwischen 2011 und 2014 von 10 auf 25 Millionen Franken erhöht. Damit unterstützt die Schweiz u.a. rund 20 Vereine und NGO der tunesischen Zivilgesellschaft, zu denen Lam Echaml gehört. Die elektronische, partizipative Zeitung Lam-e-news, wurde in Partnerschaft mit der Eidgenossenschaft realisiert.
Laut Beobachtern könnten die Nichtwähler noch zahlreicher sein als bei den Wahlen für die verfassunggebende Nationalversammlung (ANC) von 2011, als mehr als die Hälfte der Berechtigten zu Hause blieb. Als Grund dafür werden eine wachsende Politikverdrossenheit sowie die im Vergleich zur Zeit vor dem Sturz des Diktators Ben Ali als schlechter empfundene Lebenssituation genannt. Die Tunesier beklagen sich über Strassen, die von Müll überschwemmt sind, über höhere Lebenskosten sowie zunehmende Unsicherheit. Und sie kritisieren den Egoismus und die «Lügen» der Politiker. Die hohe Zahl der Kandidaten für die Parlamentswahlen (1327 Listen) und für die Präsidentschaftswahlen (27 Bewerber), die Omnipräsenz der Politik in den Medien, die immer zahlreicheren Affären sowie der hasserfüllte Ton in den Debatten haben ebenfalls zur Verdrossenheit der Bevölkerung beigetragen.
Es wurden aber Stimmen laut, die vor negativen Folgen der Abstinenz warnen. Laut einem Bericht vom letzten Juni der Nichtregierungsorganisation International Crisis Group, die sich in der Konfliktprävention und -lösung engagiert, begünstigt eine schwache Beteiligung radikale und populistische Parteien. Im Juli sprach Farhat Horchani, Präsident des tunesischen Verfassungsrechts, vom Risiko einer Blockierung des Übergangsprozesses, von Unruhen und Spannungen.
«Cyclo-électoral»
Die tunesischen Wähler zu mobilisieren, ist deshalb für Lam Echaml eine entscheidende Sache. Die politisch neutrale Organisation war am Tag nach der Revolution gegründet worden. Sie vereinigt Vereine der Zivilgesellschaft und unabhängiger Bürger, die sich für ein «modernes, republikanisches und demokratisches» Tunesien einsetzen. Für die ANC-Wahlen 2011 hatte die Organisation die Sensibilisierungskampagne «Vox in Box» lanciert, während der 120 junge Leute aus allen Regionen Kontakt mit der Bevölkerung suchten. Im Rahmen dieser Kampagne, die 2014 wiederholt wurde, fand zum ersten Mal die «Tour de Tunisie cyclo-électoral» statt. Trotz des Namens machte sich die Mehrheit der Tour-Teilnehmer mit dem Bus auf den Weg. Die Velos, die in einem separaten Camion transportiert wurden, kamen nur für kürzere Strecken von einigen Kilometern zum Einsatz.
Während sich «Vox in Box» insgesamt eher an weibliche und junge Wähler richtet, haben sich die Velofahrer auf die ländlichen Zonen ausgerichtet. Die Forschungsagentur Sigma Conseil sagt voraus, dass die Wahlabstinenz dort rund 10% höher sein wird als in urbanen Regionen, also bei mehr als 60% liegen werde. Noch höher dürfte sie in den benachteiligten Gebieten im Nordwesten und Mittelwesten sein (rund 65%). In genau diesen Provinzen (Kef, Bizerte, Béja, Jendouba, Siliana, Kairouan, Sidi Bouzid, Kasserine) hatte die Expedition von Lam Echaml begonnen, die swissinfo.ch während zwei Tagen verfolgt hat.
Diese Provinzen mit besonders hoher Arbeitslosigkeit waren von Tunis seit je her vernachlässigt worden. Anders als in den Küstengebieten des Ostens gibt es hier keine Autobahn. «Dieser Teil Tunesiens wird nur für den Transport von Nahrungsmitteln in die Hauptstadt, für die Landwirtschaft und den Bergbau benutzt, das ist alles», beklagt sich die 25-jährige Imen Rouahi, unabhängige Architektin und Vize-Präsidentin von Lam Echaml, die für den Bereich «Jugend und kulturelle Aktivitäten» zuständig ist, während der Bus über eine holprige Strasse durch ausgetrocknete Felder mit ausgemergelten Kühen rumpelt.
Kein Wasser in den Schulen
Um die Dorfbewohner zu erreichen, sucht Lam Echaml die Primarschulen auf mit dem Ziel, die Eltern der Schüler zu erreichen, die aus Ortschaften im Umkreis von rund 8 km herkommen. Fast 7000 Hefte mit Sensibilisierungsbotschaften zu den Wahlen sowie 8000 Broschüren über das Wahlverfahren wurden verteilt – Notizblöcke für die Schüler, Instruktionen für die Eltern. In fast allen Schulen, die swissinfo.ch besucht hat, gibt es kein Wasser. Die Kinder legen die Distanz zwischen ihrem Zuhause und der Schule zu Fuss zurück und bringen ihre Wasserflaschen selber mit.
Die Wirksamkeit des Projekts wird auch dadurch beeinträchtigt, dass zahlreiche Eltern Analphabeten sind. «Fast die Hälfte», schätzt ein Lehrer einer Schule mit 280 Schülern in der Nähe der Stadt Kairouan. Ein Zeichen für das dürftige Interesse an den Wahlen sind auch die unbenutzten Werbeflächen, die für die Wahlplakate der Parteien vorgesehen wären. «Politik ist nichts als Blabla, sagt ein Dorfbewohner im Bezirk Kasserine in der Nähe der Grenze zu Algerien. «Für uns wird nichts getan.»
Die Zukunft Tunesiens sei ans Bewusstsein der Bürger gebunden, sagt Shady Babhi. Das 24-jährige Mitglied von Lam Echaml ist nach Abschluss seines Studiums in Biomedizin arbeitslos geworden. Und der Architekt Imen gibt zu bedenken, dass «nicht alle Probleme auf einmal gelöst werden können.»
Der 24-jährige Mohamed Ben Arfa aus dem Bezrik Kef im Nordwesten, der ein Studium für «nachhaltige räumliche Entwicklung» absolviert, ortet zwei gravierende Probleme: die Wirtschaft und das Bildungswesen. «Die Ausbildung war schon vor der Revolution dürftig. Aber sie hat sich noch verschlechtert.» Auch die Wirtschaftsindikatoren verheissen keine Besserung. Die Arbeitslosigkeit liegt gemäss offiziellen Zahlen bei über 15%, im Vergleich zu 13% im Jahr 2010. Bei den 15 bis 29-Jährigen beträgt sie sogar mehr als 35%.
«Die Abwesenheit der Zivilgesellschaft»
«Es braucht auch mehr Sicherheit und Stabilität, sonst geht gar nichts», meint Mohamed. Die Kämpfe zwischen Jihadisten und Sicherheitskräften haben seit 2012 in Gebirgszone Djebel Chambi in der Nähe von Kasserine Dutzende Tote gefordert. Die Region war letztes Jahr auch durch die politischen Morde an Mohamed Brahmi und Chokri Belaïd, Mitglieder der Linken, erschüttert worden.
Was versprechen sich die Mitglieder von Lam Echaml von ihrem Projekt? «Wir werden eine Auswertung vornehmen», sagt Tarak Mahdhaoui, einer der Organisatoren, der auch als Zahlmeister amtet. «Die Zivilgesellschaft ist bei dieser Wahlkampagne abwesend, genauso wie eine übergeordnete, unabhängige Instanz für die Wahlen und Parteien.»
Glaubt er daran, dass das Land zu einer Demokratie wird? «Die Transition findet statt. Aber ist es so, wie ich es mir vorgestellt habe? Nein, aber die Realität ist immer anders. Tunesien ist das einzige Land, das den demokratischen und politischen Übergang mit verhältnismässig wenigen Toten geschafft hat. Wir stehen – so gut es geht – vor den zweiten Wahlen. Vielleicht befinden wir uns nicht immer auf gutem Weg, aber wir halten den Kurs.»
Demokratie verliert an Charme
Die Demokratie-Begeisterung in Tunesien hat sich seit der Revolution vom 14. Januar 2011 abgeschwächt. Nur 48% der Bewohner sind der Meinung, dass die Demokratie allen anderen politischen Systemen vorzuziehen sei. 2012 waren es noch 63%. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der amerikanischen Denkfabrik Pew Research Center, die am 15. Oktober publiziert worden ist. 51% der Tunesier schätzen, dass sich das Land in einer schwierigeren Lage befinde, als zur Zeit des Diktators Ben Ali.
Jene Politiker, die das Land in der Übergangsphase geführt haben, sind die Opfer dieser Unzufriedenheit. Die islamistische Bewegung «Ennahdha» sowie die beiden säkularen Mittelinks-Parteien «Ettakatol» und «Kongress für die Republik (CPR)» des Übergangspräsidenten Moncef Marzouki, die Tunesien vom Dezember 2011 bis Januar 2014 als «Troika» regiert hatten, bevor sie einer Technokraten-Administration Platz machten, mussten zusehen, wie ihre Popularität förmlich implodierte.
Der Beliebtheitswert von Ennahdha, der grossen Siegerin der Wahlen für die verfassunggebende Nationalversammlung von 2011, sank von 65 auf 31%. Den Islamisten wird Inkompetenz, Tendenz zu Vetternwirtschaft, Missbrauch der Religion sowie eine Laisser-faire-Politik gegenüber Terroristen vorgeworfen.
Trotzdem dürfte Ennahdha bei den Parlamentswahlen vom 26. Oktober ein gutes Resultat erzielen, sagt Mohamed Kerrou, Professor an der Fakultät für Rechts- und Politikwissenschaften der Universität Tunis. Die Bewegung dürfte nur von der 2012 gegründeten sozialdemokratischen Partei Nidaa Tounes übertroffen werden. Diese beiden Gruppierungen werden allein 50 bis 60% der Stimmen vereinen, sagt der Politologe voraus. 10 bis 20% dürften an eine dritte, noch nicht bestimmte Kraft gehen.
Favorit für die Präsidentschaftswahlen ist Béji Caïd, Präsident von Nidaa Tounes, der seine Partei als eine «moderne Alternative zum Islamismus» präsentiert.
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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