Genf stimmt über umstrittenes Laizismus-Gesetz ab
Die Genfer Stimmberechtigten stimmen am Sonntag über ein umstrittenes neues Gesetz ab, das auf eine bessere Regelung der Beziehung zwischen Staat und Religion abzielt und das Prinzip des Laizismus im Kanton bekräftigt. Für die Gegner gehen die geplanten Änderungen zu weit, etwa das Verbot für kantonale Angestellte, bei der Arbeit sichtbare religiöse Symbole zu tragen.
Genf ist ein kosmopolitischer Schmelztiegel; rund 40% der Einwohner und Einwohnerinnen stammen ursprünglich aus dem Ausland. Der Kanton des protestantischen Reformers Jean Calvin wird manchmal auch als protestantisches Rom bezeichnet.
Doch die Zeiten haben sich gewandelt und Genf hat heute eine vielfältige religiöse Zusammensetzung. 2016 haben sich 35% der Wohnbevölkerung als römisch-katholisch bezeichnet, 10% als protestantisch und 6% als muslimisch. Insgesamt gibt es in der Stadt 400 religiöse Gemeinschaften, gleichzeitig sagten 35% der Bevölkerung, sie seien nicht gläubig oder gehörten keiner Konfession an.
In den vergangenen fünf Jahren kämpften lokale Beamte und Politiker darum, sich auf ein neues Gesetz zur Laizität im Kanton zu einigen. Der Anstoss zu der Revision kam von Staatsrat Pierre Maudet. Unterstützer der Vorlage erklären, das neue Gesetz bringe veraltete Bestimmungen auf den neusten Stand.
Im April 2018 verabschiedete das Kantonsparlament dank einer Mitte-Rechts-Mehrheit schliesslich das neue Gesetz. Für die Gegner der Vorlage, vor allem linke und grüne Parteien, feministische Gruppierungen, muslimische Verbände und Gewerkschaften, gehen die Änderungen zu weit. Sie sammelten daher rund 8000 Unterschriften und ergriffen das Referendum. Nun wird das neue Gesetz dem Volk zur Abstimmung unterbreitet. Zudem sind mehrere rechtliche Beschwerden eingereicht worden, die vor Gericht hängig sind.
Kritiker sagen, das neue Gesetz sei unnötig und willkürlich und gebe Regierungsbeamten zu viel Macht. Die Vorlage verstosse auch gegen Menschenrechte, insbesondere gegen Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der MenschenrechteExterner Link, der besagt, dass jeder Mensch das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit hat.
Unterstützung der Kirchen
Unterstützer des neuen Gesetzes, vor allem Mitte-Rechts- und Rechtsaussen-Parteien und die Genfer Regierung, erklären, der neue Rechtsrahmen sei längst überfällig und praktisch, weil er dazu beitragen solle, bestehende Grundsätze in der Verfassung klarzustellen, um die Gedanken-, Gewissens- und Glaubensfreiheit zu schützen, aber auch die Freiheit, nicht zu glauben.
«Wir befinden uns in einem Kontext, in dem 35% der Genfer Bevölkerung keiner bestimmten Religion folgen, wo aber 400 unterschiedliche religiöse Gemeinschaften Seite an Seite leben. Wir brauchen einen rechtlichen Rahmen, um die Dinge zu beaufsichtigen und in Situationen helfen zu können, die sich etwa in Gefängnissen oder Spitälern ergeben können», erklärte der christlich-demokratische (Mitte-Rechts) Parlamentsabgeordnete François Lance.
Die drei wichtigsten Religionsgemeinschaften in Genf – die Protestantische Kirche, die Römisch-Katholische Kirche und die Altkatholische Kirche gaben ihrer Unterstützung für das neue Gesetz gemeinsam Ausdruck. Sie verwiesen aber gleichzeitig darauf, dass die Bestimmungen über die religiöse Neutralität von kantonalen Angestellten sowie Politikern und Politikerinnen zu weit gingen.
In einer seltenen gemeinsamen PresseerklärungExterner Link im Januar 2019 verwarfen sie Argumente der Gegner und erklärten, diese «hätten gezeigt, dass sie unfähig sind, das Ausmass des religiösen Phänomens und seiner Restrisiken zu erfassen, wenn es keine Regelungen gibt».
Pascal Desthieux, Bischofsvikar der Römisch-katholischen Kirche, sagte, es gehe nicht um eine Abstimmung über den Schleier, sondern um ein «Gesetz zum Rahmen der Laizität in Genf, um den religiösen Frieden in den kommenden Jahren zu bewahren».
«Islamfeindlich»
Gegner und Gegnerinnen der Vorlage sind besonders empört über eine in letzter Minute eingebrachte Änderung, wonach gewählte Politikerinnen und Politiker sowie Kantons- und Gemeindeangestellte mit Kontakt zur Öffentlichkeit keine sichtbaren religiösen Symbole tragen oder zeigen dürfen. Gewisse Kritiker sagen, das Gesetz sei islamfeindlich, weil muslimische Frauen mit einem Schleier oder einem Kopftuch indirekt ins Visier genommen würden.
Die grüne Politikerin Sabine TiguemounineExterner Link, die im Parlament von Meyrin sitzt, ist zur Zeit die einzige gewählte Volksvertreterin in Genf, die einen Schleier trägt. «Die Leute kennen mich so», erklärt sie. Und fügt hinzu, sie habe weder als gewählte Volksvertreterin, noch bei ihrer Arbeit als Krankenschwester je irgendwelche Probleme gehabt. «In Genf herrscht religiöser Frieden, aber dieses Gesetz schadet ihm.»
Kritiker erklären, es bestehe keine Notwendigkeit für ein übergeordnetes Gesetz, da bestimmte Bereiche wie die Bildung bereits angemessen reguliert seien. Lehrer und Lehrerinnen in Genf unterliegen heute schon einem Gesetz, das sichtbare religiöse Symbole in Schulen verbietet.
Carole-Anne Kast, eine lokale Beamtin im Bezirk Onex, macht sich Sorgen, dass das neue Gesetz negative Auswirkungen für Angestellte haben könnte, vor allem für muslimische Frauen.
«Würde das Gesetz angenommen, wäre ich gezwungen, fünf Frauen zu entlassen, die einen Schleier tragen. Und dies, obschon die Gemeinde sie im vollen Wissen engagierte, dass sie einen Schleier tragen», sagte Kast. «Es handelt sich um Frauen, die Kindern helfen, in die Schule zu kommen oder sich nach den Schulstunden um Kinder kümmern. Was soll ich den Eltern dann sagen?»
Kirchensteuern und öffentliche Kundgebungen
Ein weiterer Streitpunkt ist die Frage der freiwillig erhobenen Religionssteuern, welche bisher traditionell an die drei christlichen Kirchen in Genf gingen. Gemäss dem neuen Gesetz könnten Teile dieser Gelder unter Einhaltung von strikten Bestimmungen wie dem Einreichen von extern überprüften finanziellen Jahresabschlüssen und der Auflistung aller Spender – Staaten, Unternehmen, öffentliche Stellen und Einzelpersonen in der Schweiz und im Ausland – in Zukunft auch an andere religiöse Gemeinschaften gehen.
Das neue Gesetz würde auch religiöse Versammlungen im öffentlichen Raum verbieten, ausser die Organisatoren beantragen und erhalten im Vorfeld eine offizielle Genehmigung.
Das Evangelische Netwerk Genf hat bei einem Genfer Gericht gegen diese Vorschrift eine Beschwerde eingereicht. Und die Grünen legten ihrerseits eine Beschwerde gegen die Regelung ein, die es gewählten Amtsträgern verbietet, sichtbare religiöse Symbole zu tragen. Wird das neue Gesetz bei der Abstimmung am Sonntag angenommen, werden sich die Gerichte mit diesen Beschwerden befassen müssen.
Laizität/Säkularismus in der Schweiz
Artikel 8 (Rechtsgleichheit) und 15 (Glaubens- und Gewissensfreiheit) der Bundesverfassung der Schweizerischen EidgenossenschaftExterner Link garantieren die individuelle Glaubensfreiheit. Die Verfassung besagt: «Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen».
Seit 1848 sind Kirche und Staat auf Bundesebene getrennt. In Artikel 72 der Bundesverfassung («Kirche und Staat») steht jedoch: «Für die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat sind die Kantone zuständig.»
Einige Kantone anerkennen offiziell gewisse Kirchen (Römisch-Katholiken, Schweizer Reformierte, Alt-Katholiken und jüdische Gemeinden), während Genf und Neuenburg, die in diesem Bereich stark von Frankreich beeinflusst wurden, strikt laizistisch sind. Im Kanton Genf ist die Trennung von Staat und Kirche schon seit 1907 in einem Gesetz festgeschrieben, seit 2012 auch in der Kantonsverfassung.
In FrankreichExterner Link fusst der Laizismus (Säkularismus) auf drei Prinzipien und Werten: Gewissensfreiheit und Freiheit, der eigenen Meinung innerhalb der Grenzen der Achtung der öffentlichen Ordnung frei Ausdruck zu geben, Trennung öffentlicher Institutionen und religiöser Organisationen, sowie Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, unabhängig von ihrem Glauben oder ihren Überzeugungen.
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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