Die Frau, die fast allein ein ganzes Land an die Urnen bewegt
Die Initiative "für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung" will die Landwirtschaft zu strengster Rücksicht auf die Natur verpflichten. Lanciert wurde sie von einer Einzelperson, von Franziska Herren. In neun Monaten überzeugte ihr achtköpfiges Komitee mehr als 100'000 Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Ein Hausbesuch.
Franziska Herren, 50, fokussierter Blick, empfängt im Büro unter dem Dach. Im Stockwerk darunter lebt sie. Im Parterre befindet sich ihr Fitness- und Aerobic-Studio. Ein Privathaus in einem Dorf zwischen Autobahn und Jura: Das ist die Kampagnenzentrale der Trinkwasserschutz-Initiative.
Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern nebst internen auch aussenstehende Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit jener von swissinfo.ch decken.
«Eigentlich eine schüchterne Person»
Lanciert wurde das Anliegen vergangenen März von Herren und sieben Unterstützenden – fast alles Frauen. «Im Sommer lief das Sammeln besonders gut. Da gingen wir immer dahin, wo sich Leute am Wasser aufgehalten haben. In Schwimmbäder, an den Rhein, an die Aare. Im Moment arbeite ich 300 Prozent, etwa 30 Prozent davon in meinem Fitness-Unternehmen. Aber die Sammelphase ist jetzt vorüber.»
Vom neunmonatigen Ausnahmezustand erzählt Herren in einem Stakkato. Gleichzeitig sagt sie: «Ich bin eigentlich eine schüchterne Person. Es fordert mir alles ab, vor Leute zu stehen.»
«Nicht politisch und in keiner Partei»
Auf die Frage, wie sie sich politisiert habe, reagiert Herren abwehrend: «Ich bin nicht politisch. Ich bin in keiner Partei. Ich engagiere mich für unsere Lebensgrundlage.»
Trotzdem ist ihre Geschichte geradezu exemplarisch für das Ideal des Bürgers als Souverän, als höchste Instanz in der Schweizer Politik. Losgelöst von politischen Bindungen engagierte sie sich erst auf Gemeinde-, dann auf Kantons- und jetzt auf Bundesebene. An einer Veranstaltung zur lokalen Raumplanung lernte sie ihren späteren Mitstreiter Walter Kummer kennen. Das war 2011. Kummer ist ein ehemaliger Unternehmer aus der Blechverarbeitung. Er verfügt über Ressourcen, Zeit und Geld.
Mehr
Wenn zwei «normale» Bürger ein AKW abstellen wollen
Dann kam Fukushima. Herren druckte Flyer und verteilte sie im Dorf. «Ich wollte bewusstmachen, dass wir alle Atomkraftwerke abschalten und von erneuerbarer Energie leben könnten. Da trat Walter Kummer an mich heran und führte aus, wie wir eine Initiative starten könnten», schildert Herren.
Das einzige Atomkraftwerk im Kanton Bern ist praktisch baugleich wie der Reaktor im japanischen Fukushima – und Mühleberg ist pannenanfällig. Schon vor der offiziellen Inbetriebnahme 1973 gab es einen gravierenden Brand.
Für die Abschaltung des AKW Mühleberg
Die kantonale Initiative von Herren und ihrem Compagnon forderte die sofortige Abschaltung des Reaktors von Mühleberg. Kummer finanzierte Herren, damit sie sich Vollzeit der Initiative widmen konnte. Beide waren oft auf der Strasse, engagierten aber auch bezahlte Sammler und genossen Unterstützung von Parteien. Nach vier Monaten waren die Unterschriften beisammen.
Der Initiative stimmte am Ende keine Mehrheit zu, aber sie entfaltete vor der Abstimmung Wirkung: Zwischen Sammelphase und Abstimmung kündigten die Betreiber an, dass das Atomkraftwerk 2019 seinen Betrieb einstelle. Es ging um Nuklearstrom – ein internationales Aufregerthema.
Sauberes Trinkwasser müsste laut Herren ebenso ein Aufregerthema sein. Bisher ist es das nicht.
Allein gegen grosse Bauernlobby
Die «Initiative für Sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung» fordert, dass nur noch Subventionen und Direktzahlungen an jene Agrarbetriebe getätigt werden, die ohne Pestizide arbeiten und sich für Biodiversität einsetzen. Weiter sollen Nutztiere nur hofeigenes Futter erhalten und nicht regelmässig Antibiotika verabreicht bekommen.
Da es praktisch unmöglich ist, ohne Subventionen in der Schweizer Landwirtschaft tätig zu sein, sind diese Forderungen radikal. Der Bauernverband lehnt die Initiative ab und legt nahe, dass Herrens Initiative zu mehr Importen führe. 8 Prozent aller Nationalräte sind Bauern. Im Herbst überzeugte der Bauernverband in einer Volksabstimmung 75 Prozent der Schweizer von einem Bauernanliegen. Auch wenn die Anzahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft kontinuierlich sinkt: Die Schweizer Bauernlobby bleibt stark und erhält verlässlich Zuspruch der Bevölkerung.
Dialog mit dem politischen Gegner
Die Zeitung «Blick» betitelte Franziska Herren als «Bauernschreck». Aber Herren setzt auf Dialog. Sie habe nur Probleme mit Leuten, die glauben, Engagement bringe nichts. Sie gab der Bauernzeitung Interviews, streut manche Beiträge auf Facebook gezielt in ein bäuerliches Zielpublikum und bringt sich in den entstehenden Diskussionen ein.
Herren glaubt anders als der Bauernverband, dass ihre Initiative echte einheimische Produktion fördert: «Bauern haben einen Vertrag mit dem Volk. Ein Bauer bekommt Direktzahlungen, um nachhaltig zu wirtschaften, aber er kauft damit Pestizide. Wieso stellt die Schweiz 70 Prozent der Eier mit Importfutter her? Wir subventionieren dies mit unseren Steuern. Ebenso, wie die übermässigen Mengen Antibiotika, die man den Tieren verabreicht.»
Herren bringt einen Aspekt ihres Anliegens und ergänzt ihn präzis mit einem Argument. Sie ist keine Politikerin, aber durch jahrelanges Machen und Lernen zum Medien- und Kampagnenprofi geworden.
«Alles, was man macht, hat eine Wirkung»
Die Initiative der acht engagierten Bürgerinnen und Bürger würde fast alle Bauernbetriebe betreffen – auch Biobetriebe, die Antibiotika einsetzen. Ist das Anliegen nicht chancenlos? «Alles was man macht, hat eine Wirkung. Nur schon die, dass das Thema überhaupt auf die Agenda kommt.»
Die ungeschriebenen Gesetze der Schweizer Politik geben Herren recht: Ein Grossteil der Initiativen wird zwar abgelehnt, doch einige abgelehnte Initiativen prägen danach den politischen Diskurs im Land. Entscheidend dafür ist, ob ein Anliegen mehr Zuspruch erlangt hat, als erwartet wird.
Herren hat so gegensätzliche Gruppierungen wie den Vegetarier- und den Fischereiverband für das Anliegen gewonnen. Wohl auch, weil ihre Art und ihre Argumente im Schweizer Politdiskurs ungewohnt sind. Normalerweise sind es – entgegen dem Staatsideal des Bürgers als Souverän – keine Einzelpersonen, die eine nationale Initiative einreichen, sondern professionell aufgestellte Parteien und Verbände.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch