Trump-Methoden fassten in der Schweiz nicht Fuss
Covid-Gesetz inkl. Impfzertifikat: Mit der 650. Volksabstimmung hat der Trumpismus in der Demokratie Schweiz Einzug gehalten. Was bedeutet das? Unsere Analyse.
62% Ja, 65% Stimmbeteiligung: Einen grösseren Vertrauensbeweis konnten sich Bundesrat und Parlament in den Wirren der fünften Pandemie-Welle nicht erhoffen.
Zudem bewiesen die Schweizer Stimmbürger:innen, dass sie an der Urne immer noch Sachprobleme lösen wollen statt Spaltungskriege auszufechten.
Diese seltene Einigkeit von politischen Parteien, den Institutionen und den Kantonen sowie Regionen ist die klarste Botschaft der Jubiläumsabstimmung.
Hitzige Abstimmungskämpfe ist man in der Schweiz gewohnt. Doch kleine Gruppen radikalisierter Massnahmengegner:innen haben für Neuerungen gesorgt, welche die Schweiz nicht gewohnt war.
- Denunzierung der Schweiz als Diktatur.
- Öffentliche Drohung eines Raketenangriffs gegen Gesundheitsminister Alain Berset.
- Private nachrichtendienstliche Tätigkeiten im Hinblick auf eine spätere gerichtliche Aburteilung von Politiker:innen und Personen, die sich für die Impfung stark machen.
- Versuchter Sturm einiger Massnahmengegner:innen aufs Bundeshaus.
- Präventive Erklärung der Abstimmung vom 28. November als gefälscht. Damit verbunden die Ankündigung von gerichtlichen Beschwerden gegen das Resultat.
- Nicht-Anerkennung des Volksentscheids, also des Abstimmungsresultats.
- Die Polizei sperrte am Abstimmungstag das Bundeshaus ab – aus Furcht vor Angriffen von unterlegenen Massnahmen-Gegner:innen.
Mit ihren aus den US importierten trumpistischen Elementen hat erstmals eine Gruppe – ein zwar sehr kleiner, aber fanatisierter Kern von Massnahmengegner:innen und Corona-Leugnenden – den «Common Ground» der Demokratie Schweiz verlassen. Sie anerkennen weder die Institutionen noch die Mechanismen der Demokratie Schweiz.
Keine «Tyrannei der Mehrheit»
In der Schweizer Abstimmungsdemokratie aber müsste das Siegen wie auch das Verlieren eigentlich gelernt sein. Weder dürfen die Gewinner:innen in einem Rausch überborden und sich arrogant über die Verlierer hinwegsetzen: Minderheiten, und schon gar nicht die Verlierer:innenseite, dürfen nicht in einer «Tyrannei der Mehrheit» majorisiert werden. Vielmehr muss die Seite der Sieger:innen deren Vorbehalte und kritische Argumente in der politischen Lösung berücksichtigen.
Das scheint zu geschehen: Auch die neu vorgeschlagenen Massnahmen des Bundesrates gegen die fünfte Pandemiewelle sind trotz lautstarker Kritik von Interessensverbänden und einigen Kantonen weit weniger restriktiv als in den umliegenden Ländern.
Die Verlierer:innen ihrerseits dürfen nie so tun, als ginge es in einer Abstimmung um alles oder nichts. Schlimmer noch: um Leben und Tod. Mit den Volksrechten der Initiative und des Referendums haben sie so starke Hebel in der Hand wie es sie in keinem anderen Land der Welt gibt. Sie können nach einem Atemschöpfen in einem zweiten oder gar dritten Anlauf ihr Anliegen erneut auf die politische Agenda des Landes setzen.
Zudem gibt es rechtliche Möglichkeiten, sich gegen angeblich manipulative Formulierungen auf den Abstimmungsunterlagen und die «verfassungswidrigen Massnahmen» zu wehren. Bis ein Gericht etwas anderes sagt, sind Volksentscheide zu akzeptieren. Bisher sind die Massnahmen-Kritiker:innen mit den Beschwerden bei den Kantonen samt und sonders abgeblitzt.
Die Schweiz bleibt robust
Die Frage ist jetzt: Hat die Schweiz mit der 650. Abstimmung die trumpistischen Irrationalitäten überstanden und kann nun, mit einem klar gestärkten Bundesrat und Parlament, den weiteren Kampf gegen die Pandemie angehen? Das bleibt abzuwarten. Heute können sich die Dinge in schwindelerregender Geschwindigkeit ändern.
Sicher aber ist: Die Demokratie Schweiz ist auch nach knapp zwei Jahren Pandemie robust und – gerade in der Krise geeint. So schnell kippt sie nicht aus den Schuhen.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch