«Man darf nicht über alles abstimmen»
Eine Abstimmung über die Todesstrafe duldet Deutschland nicht, auch nicht wenn es um die Türkei geht. Das hat Bundeskanzlerin Merkel klar gemacht. Die Schweiz sollte in dieser Frage gleich handeln, sagt Nationalrat Tim Guldimann, der bis 2015 Botschafter in Berlin war.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan denkt laut darüber nach, eine Abstimmung über die Todesstrafe durchzuführen. Türkische Staatsbürger in Deutschland könnten an dieser Abstimmung aber nicht teilnehmen, weil ein solcher Urnengang dort nicht erlaubt würde.
In der Schweiz leben rund 95’000 Menschen mit türkischer Wahlberechtigung. Die Frage stellt sich auch für die Schweiz. Tim Guldimann, der ehemalige Botschafter in Berlin und Nationalrat der Sozialdemokratischen Partei (SP), begrüsst den Entscheid Deutschlands.
swissinfo.ch: In Ihrer Wahlheimat hat Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt, dass eine allfällige türkische Abstimmung über die Einführung der Todesstrafe in Deutschland nicht toleriert würde. Finden Sie das richtig?
Tim Guldimann: Ja, weil die Prinzipien der europäischen Menschenrechtskonvention es verbieten, über diese Frage abzustimmen. Im Europarat hat man sich darauf geeinigt, dass die Todesstrafe verboten ist. Deutschland, die Schweiz und die Türkei sind Mitglieder des Europarats. Sie müssen sich an diese Prinzipien halten. Wenn die Türkei aus dem Europarat austräte, würde das nichts daran ändern, dass es in Deutschland oder der Schweiz darüber keine Abstimmung geben darf.
swissinfo.ch: Frau Merkel hat diese Erklärung abgegeben, noch bevor die Türkei einen definitiven Entscheid über die Durchführung einer Abstimmung gefällt hat.
T.G. Ich finde es prinzipiell besser, die eigene Position klar zu stellen, bevor eine Anfrage kommt.
swissinfo.ch: Die Frage stellt sich auch für die Schweiz, wenn auch hypothetisch. Soll man schon handeln?
T.G.: Nur zu hoffen, dass der Kelch an uns vorübergeht, finde ich falsch. Hier geht es um unsere prinzipielle Haltung, die nicht davon abhängt, ob eine Anfrage gestartet wird oder nicht.
swissinfo.ch: Auch wenn es um eine Sache ausserhalb der Schweiz geht?
«Nur zu hoffen, dass der Kelch an uns vorübergeht, finde ich falsch. Hier geht es um unsere prinzipielle Haltung, die nicht davon abhängt, ob eine Anfrage gestartet wird oder nicht.»
T.B.: Der Rechtsstaat steht über dem Volkswillen, falls es einen Widerspruch gibt. Über Menschenrechte darf in unserem Land nicht abgestimmt werden, egal ob es sich um eine Abstimmung handelt, die auf unserem Territorium für ein anderes Land durchgeführt wird, oder um eine Abstimmung, bei dem sich Schweizerinnen und Schweizer zu einem Schweizer Anliegen äussern.
swissinfo.ch: Und was ist mit dem Neutralitätsprinzip der Schweiz?
T.G.: Immer, wenn man sich um eine aussenpolitische Stellungnahme drücken will, wird die Neutralität bemüht. Das ist grundfalsch. Neutralität bedeutet, dass die Schweiz sich nicht an bewaffneten Konflikten anderer Staaten beteiligt. Um das auch für die Zukunft zu garantieren, haben wir eine Neutralitätspolitik. Sie verbietet, der NATO beizutreten, unabhängig davon, ob diese sich heute in einem Krieg befindet. Die Frage der Todesstrafe hat überhaupt nichts mit Neutralität zu tun, sondern mit Menschenrechten, Rechtsstaat, Völkerrecht und mit der Tatsache, dass man nicht über alles abstimmen darf.
swissinfo.ch: Sind Sie denn als Schweizer kein überzeugter Anhänger der direkten Demokratie?
T.G.: Ich bin ein überzeugter Anhänger der direkten Demokratie und des Rechtsstaats. Der Volkswille darf nicht dazu missbraucht werden, den Rechtsstaat auszuhebeln. Konkret: Wenn über die Wiedereinführung der Sklaverei abgestimmt werden sollte, oder darüber, dass die Blauäugigen die doppelten Steuern zu bezahlen hätten, geht es um Grundprinzipien, über die nicht eine Mehrheit entscheiden darf.
swissinfo.ch: Wer entscheidet in der Schweiz, worüber nicht abgestimmt werden darf?
T.G.: Wenn jemand 100’000 Unterschriften zur Wiedereinführung der Todesstrafe sammelt, muss der Bundesrat [Regierung, n.d.R.] entscheiden, ob er dem Parlament empfehlen soll, die Durchführung einer solchen Abstimmung zu verbieten.
swissinfo.ch: Sie sind ein dezidierter Gegner der Todesstrafe. Wie konnten Sie als ehemaliger Schweizer Botschafter in Iran jahrelang in einem Land leben und arbeiten, das weltweit am zweitmeisten Hinrichtungen durchführt?
T.G.: Die UNO-Menschenrechtskonvention verbietet – im Gegensatz zum Europarat – die Todesstrafe nicht. Man kann Iran – auf der Basis universell gültiger Regeln, oder der Verpflichtungen, die das Land eingegangen ist – nicht vorwerfen, dass die Todesstrafe angewendet wird. Auch Russland, China und den USA nicht. Die Frage ist, mit welchem politischen Argument man eine andere Regierung kritisiert. Die Türkei hingegen ist Mitglied des Europarats und muss sich an die europäische Menschenrechtskonvention halten, oder sich von Europa abmelden.
Zwischen Diplomatie und Lehre
Tim Guldimann wird 1950 in Zürich geboren. Seine Studien in Volkswirtschaft führen ihn namentlich nach Santiago de Chile, Mexiko und Stockholm.
Von 1976 bis 1979 arbeitet er am Max-Planck-Institut in Starnberg (D), das vom Philosophen Jürgen Habermas mitgeleitet wurde. 1976 publiziert er das Buch «Die Grenzen des Wohlfahrtsstaates», 1979 an der Universität Dortmund seine Doktorarbeit über die Arbeitsmarktpolitik in Schweden.
Zwischen 1979 und 1981 ist er mehrmals zu Forschungszwecken in der Sowjetunion (Moskau, Leningrad und Nowosibirsk), aber auch in London und New York.
1982 tritt er in den diplomatischen Dienst der Schweiz ein. Von 1991 bis 1995 ist er unter anderem verantwortlich für Forschungsverhandlungen mit der EU. Zudem lehrt er an den Universitäten Bern, Zürich und Freiburg.
In Tschetschenien ist er von 1996 bis 1997 Leiter der OSZE-Unterstützungsgruppe und handelt einen Waffenstillstand aus. In den beiden darauf folgenden Jahren ist er Leiter der OSZE-Mission in Kroatien.
Von 1999 bis 2004 ist Guldimann Schweizer Botschafter in Teheran und vertritt in dieser Funktion auch die amerikanischen Interessen im Iran. Sein Vorschlag zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran scheitert.
Zwischen 2004 und 2007 lehrt er an verschiedenen europäischen Universitäten.
Für die OSZE ist er ab 2007 erneut tätig. Während eines Jahres leitet er die OSZE-Mission und ist stellvertretender Sonderbeauftragter des UNO-Generalsekretärs im Kosovo.
Seit Mai 2010 ist Guldimann Schweizer Botschafter in Berlin. Diesen Posten wird er Ende Mai 2015 verlassen.
2014 beruft ihn der damalige OSZE-Vorsitzende, der Schweizer Bundespräsident Didier Burkhalter, zum OSZE-Sondergesandten für die Ukraine.
2015 schafft er als erster Auslandschweizer den Sprung ins Schweizer Parlament. Er wird für die Sozialdemokratische Partei in den Nationalrat gewählt.
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