Tunesien-Wahlen als Brücke zur Demokratie
In der Schweiz – und in verschiedenen anderen Ländern – sind die im Ausland lebenden tunesischen Stimmberechtigten vom 20. bis 22. Oktober aufgerufen, ihre Vertretungen für die neue Verfassungsgebende Nationalversammlung zu wählen.
Beobachter betrachten die Wahlen für die Verfassungsgebende Nationalversammlung als einen Wendepunkt: Der Wahlgang werde die Geburt des neuen Tunesien nach dem Sturz des Regimes von Präsident Ben Ali am 14. Januar 2011 markieren.
In dem Ausland-Wahlkreis, zu dem neben der Schweiz das übrige Europa (mit Ausnahme von Frankreich, Deutschland und Italien) sowie Nord- und Südamerika zählen, kämpfen Kandidierende auf 17 Wahllisten um zwei Sitze in der Verfassungsgebenden Versammlung. Auf zwei dieser Listen finden sich die Namen von zwei Kandidatinnen und einem Kandidaten aus der Schweiz.
«Für die tunesischen Wahlberechtigten in der Schweiz ist alles bereit für den Urnengang», erklärte Mohamed Hasan, der Vorsitzende des Unabhängigen Regionalen Komitees, gegenüber swissinfo.ch.
Insgesamt seien fünf Wahllokale eingerichtet worden: In Bern, Genf, Lausanne, Neuenburg und Zürich.
Teilnahme verkörpert Staatsbürgerschaft
Die Tunesier verstecken ihren Stolz auf das bisher Erreichte nicht. In Tunesien nahm der Arabische Frühling seinen Anfang und erfasste danach weitere Staaten. Und in Tunesien werden, neun Monate nach der «Jasmin»- Revolution, mit der ein korruptes Regime vom Sockel gestürzt wurde, nun auch die ersten freien Wahlen stattfinden.
Hasan fordert alle seine Landsleute dringend auf, sich «ungeachtet ihrer intellektuellen oder politischen Ausrichtung als Teil dieses demokratischen Transitionsprozesses zu fühlen. Sie sollen realisieren, dass sie mit der Teilnahme an den Wahlen ihrer Staatsbürgerschaft am besten Ausdruck verleihen können.»
Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft hat 11’333 Kandidaten und Kandidatinnen dazu bewogen, sich auf einer der insgesamt 1570 Wahllisten aufstellen zu lassen.
Sie kämpfen um die 217 Sitze in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung, deren Hauptaufgabe die Ausarbeitung einer Verfassung für das Land und die Überwachung der zweiten Phase des Transitionsprozesses sein wird, die schliesslich zu Parlaments- und Präsidentschaftswahlen führen soll.
Emad Al-Abdali, ein tunesischer Anwalt, der seit 20 Jahren in Genf lebt, und Safwah Eissa, die ebenfalls in der Schweiz lebt, treten auf der Liste «Kurskorrektur» an. Al-Abdali erläutert, weshalb er sich für eine Kandidatur bei den anstehenden Wahlen entschieden hat.
«Die tunesische Revolution, von der man ohne Übertreibung sagen darf, dass sie das Gesicht der Welt verändert und zum Ausbruch von Volksaufständen in Nachbarländern geführt hat, hat sich von den Motiven der Jugend wegbewegt, die den Funken gezündet hatten.»
«Nun muss die Revolution zu ihren Vorreitern, der Jugend, und zum Volk zurückgeführt werden.»
Die zweite Liste mit einer Kandidatin aus der Schweiz ist die «Unabhängige Progressive Liste für Freiheiten und Soziale Gerechtigkeit». Munirah Mohamed, eine Künstlerin, die in Genf lebt, erklärte gegenüber swissinfo.ch, wieso sie diesen Namen gewählt hatte. Sie habe eine Liste gewollt, die «kollektiv ist und repräsentativ für alle Segmente des tunesischen Volkes, die offen ist für alles Positive der menschlichen Erfahrung und für soziale Gerechtigkeit eintritt.»
Wahlberechtigte anziehen
Trotz der grossen Anzahl von Parteien, die zur Wahl antreten, 110 insgesamt, haben es nur drei geschafft, in allen sechs Wahlbezirken ausserhalb Tunesiens vertreten zu sein: Kongress für die Republik, Demokratisches Forum für Arbeit und Freiheiten sowie die islamisch ausgerichtete Ennahda-Partei.
Seit Beginn der Wahlkampagne bemühen sich Vertreter der verschiedenen Wahllisten darum, die tunesischen Wahlberechtigten in der Schweiz für ihre Anliegen zu gewinnen.
Mohamed Al-Geraibi, in der Schweiz für die Wahlkampagne der Ennahda zuständig, sagte, seine Partei trete für ein parlamentarisches System ein, mit dem die Macht dem Volk zurückgeben werden soll.
«Wir werden uns dafür einsetzen, dass ein spezielles Ministerium geschaffen wird, das für die Belange der tunesischen Emigranten zuständig sein wird und diese auch ermuntern würde, in ihr Land zu investieren. Nicht zuletzt darum, weil die tunesischen Arbeitskräfte im Ausland nach dem Tourismus-Sektor die zweitwichtigste Quelle für Hartwährungen sind», erklärte er.
Jalal Al-Matiri, ein tunesischer Politaktivist, der die Unabhängige Progressive Liste für Freiheiten und Soziale Gerechtigkeit unterstützt, sagte seinerseits: «Wir unterstützen ein politisches parlamentarisches System, die Trennung zwischen den drei Gewalten und eine Reform des Polizei- und Sicherheitsapparats.»
Munirah Mohamed von derselben Liste, fügte hinzu: «Wenn wir gewählt werden, werden wir uns dafür einsetzen, dass die neue Verfassung einen Text enthält zur Schaffung eines speziellen, vom Aussenministerium unabhängigen Rats für Emigranten. Aufgabe des Rates wird es sein, sich um Tunesierinnen und Tunesier im Ausland und deren Anliegen zu kümmern.»
Das Hauptanliegen der Liste Kurskorrektur, ist, wie ihr Slogan andeutet, die «Reform des Justizwesens, die Säuberung der Sicherheits-Institutionen und der Wiederaufbau der nationalen Wirtschaft, um das menschliche und finanzielle Potential Tunesiens auszuschöpfen und auf die Erwartungen seiner Bürgerinnen und Bürger antworten zu können».
Die meisten Kandidierenden sind sich einig, dass den tunesischen Gemeinden im Ausland, die rund 10 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, eine zentrale Rolle zukommt.
Von der Schweiz inspiriert
Die meisten Kandidierenden, mit denen swissinfo.ch gesprochen hat, leben seit mehr als 20 Jahren in der Schweiz. Sie sind klar geprägt vom sozialen und politischen Modell der Schweiz. So unterstreichen sie unter anderem die Bedeutung einer dezentralisierten Regierung, die Akzeptanz anderer Meinungen, den Einbezug aller Schichten der Gesellschaft und die Bereitschaft zu Konzessionen, die Suche nach Konsens.
Es fällt auf, dass auch Parteien und Unabhängige in Tunesien selber die gleiche Botschaft haben, mit klaren Aufrufen zur Einrichtung von Mechanismen der direkten Demokratie, Dezentralisierung der Regierung und Referenden über wichtige Themen der Staatsführung.
Viele Listen unterstreichen die Notwendigkeit von Wahlen für lokale Räte. Diese müssten weitgehende Rechte erhalten zur Festsetzung ihrer Budgets, eigene Entwicklungspläne ausarbeiten und ihre lokalen Ressourcen verwalten können. Und immer wird dabei die Schweiz als Beispiel aufgeführt.
Etwa 8000 der rund 15’000 tunesischen Migrantinnen und Migranten in der Schweiz können für die ersten freien Wahlen Tunesiens nach dem Sturz des alten Regimes ihre Stimme abgeben. Es ist das erste Mal, dass Ausland-Tunesier an einem Wahlgang ihres Heimatlands teilnehmen können.
Im Wahlbezirk, der die Schweiz, das übrige Europa (ausser Frankreich, Italien und Deutschland, wo die meisten tunesischen Migranten leben) sowie Nord- und Südamerika umfasst, treten Kandidaten auf 17 Wahllisten an – davon sechs Partei-Listen und elf Unabhängige.
Nur auf zwei der Listen stehen Kandidierende, die in der Schweiz leben: Auf der Liste «Kurskorrektur» und der «Unabhängigen Progressiven Liste für Freiheiten und Soziale Gerechtigkeit».
Tunesische Wählerinnen und Wähler können ihre Stimme in fünf Wahllokalen abgeben: In Bern und Zürich sowie in Genf, Lausanne und Neuenburg.
23. Oktober 2011: Wahlen zur Nationalen Verfassungsgebenden Versammlung in Tunesien selber. Die Versammlung hat die Aufgabe, eine neue Verfassung für die Republik Tunesien auszuarbeiten. Die Wahlen für die tunesischen Gemeinden im Ausland finden vom 20. bis 22. Oktober statt.
217: Gesamtzahl der Sitze in der Verfassungsgebenden Versammlung. 18 der Sitze sind reserviert für die Vertretung der tunesischen Auslandsgemeinden.
Die Wahlkampagne begann am 1. Oktober und geht am Freitag, dem 21. Oktober, um Mitternacht zu Ende.
11’333: Gesamtzahl der Kandidatinnen und Kandidaten. 5731 davon vertreten eine Partei, 5024 sind Unabhängige und 558 treten für eine Parteienkoalition an.
1570: Gesamtzahl der Wahllisten. Davon sind 790 Parteilisten, 701 Unabhängige und 79 Parteienkoalitions-Listen.
Die Kandidierenden der tunesischen Auslandsgemeinden treten mit insgesamt 183 Wahllisten an (72 Unabhängige und 66 Parteien).
Die Schweiz hat die Wahlurnen finanziert, die bei den Wahlen zum Einsatz kommen. Die Urnen entsprechen internationalen Standards.
Länder im Übergangsprozess mit Wahlmaterial zu unterstützen stehe im Einklang mit internationalem Recht und könne das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler in den Wahlprozess stärken, erklärte das Schweizer Aussenministerium gegenüber swissinfo.ch.
Zudem entsendet die Schweiz zur Überwachung der Wahlen 12 Experten und Beobachter nach Tunesien, als Mitglieder von Teams europäischer Institutionen sowie der Internationalen Frankophonie-Organisation.
Der Schweizer Parlamentarier Andreas Gross leitet eine 20 Personen umfassende Beobachterdelegation des Europarats.
Der Europarat unterstützt verschiedene Organisationen der Zivilgesellschaft, die sich einsetzen, das öffentliche Bewusstsein für die Grund- und Bürgerrechte zu stärken und Bürgerinnen und Bürger über ihre Rechte aufzuklären.
(Adaption aus dem Arabischen und Übertragung aus dem Englischen: Muhammad Shokry und Rita Emch)
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