Twitter, Facebook & Co. erobern Schweizer Politik nur zögerlich
Einige Monate vor den eidgenössischen Wahlen im Oktober haben soziale Netzwerke bei den Kandidierenden noch nicht den Durchbruch geschafft. Nur wenige Politiker setzen diese Kanäle für ihre Kampagne auf professionelle Art und Weise ein.
Beginnen wir mit einem Schritt zurück: Als Barack Obama 2008 zum US-Präsidenten gewählt wurde, profitierte er von den Stimmen jener 27% der Bevölkerung, die zuvor noch nie gewählt hatten. Eine Leistung, die auch dank massivem Einsatz von Social Media erreicht wurde. Vier Jahre später sind Facebook, Twitter, Youtube und so weiter omnipräsent. Obama ist mit seinen 30 Millionen «Freunden» auf Facebook Mitt Romney mit seinen 10 Millionen «Fans» haushoch überlegen.
Klar, Vergleiche zwischen den USA und der Schweiz zu ziehen, ist etwas gewagt. Die Demografie und das politische System sind ziemlich verschieden. «Ein Obama-Phänomen wird es in der Schweiz also nie geben», sagt Sandro Lüscher, Gründer des Twitter-Kanals Schweizer PolitikExterner Link und Student der Politikwissenschaften an der Universität Zürich.
6 von 10 Schweizern nutzen Social Media
56% der Schweizer Bevölkerung, also etwa 3,2 Millionen Personen, sind auf sozialen Netzwerken aktiv. Die Hälfte dieser Nutzer sind täglich auf Facebook, Twitter, Youtube, Flickr, Instagram, usw. Dies zeigen die jüngsten Zahlen der Nutzungsforschungs-Firma Net-MetrixExterner Link von Anfang März 2015.
Bei den 14-35-Jährigen springt diese Zahl auf satte 90%. Bei den 36-54-Jährigen beträgt sie 65%, von den Menschen über 55 Jahre sind 40% aktiv.
Regelmässig ins Internet gehen 88 von 100 Schweizerinnen und Schweizern.
Klar ist aber, dass Social Media nur wenige Monate vor den eidgenössischen Wahlen für die beiden Schweizer Parlamentskammern im Oktober bei den Kandidierenden noch kaum eine Rolle zu spielen scheint.
«Im Vergleich dazu, was im Ausland unternommen wird – ich denke da besonders an die USA, aber auch an Frankreich und Italien –, sind wir noch stark im Hintertreffen», sagt Magali Philip, Verantwortliche für die Social-Media-Sendung «Sonar»Externer Link beim französischsprachigen Schweizer Fernsehen RTS.
«Wenn ich die letzten Wahlen von 2011 betrachte, bekomme ich den Eindruck, wir sind etwas an Ort getreten, auf jeden Fall in der Romandie. Nur wenige Kandidaten ragen heraus, und keine einzige Partei scheint eine Social-Media-Strategie zu haben, die diesen Namen verdient.»
Beta-Phase
Mark Balsiger, Politologe und Autor des Buches «Wahlkampf statt Blindflug»Externer Link, hingegen geht nicht derart hart ins Gericht, zumindest nicht, was die Parteien betrifft: «Sie haben die Bedeutung der Bilder, der Videos begriffen und wissen, dass wenn man Diskussionen anstösst, diese auch moderiert werden sollten und rasch geantwortet werden muss… Und vor allem zweifelt niemand mehr daran, dass auf diesen Kanälen etwas getan werden muss.»
«Bei den Parteien sind es natürlich vor allem die Jungparteien, welche die sozialen Medien aktiv nutzen. Aber auch die Grünen, die Sozialdemokraten und die Christlichdemokraten zeigen eine hohe sozialmediale Präsenz», sagt Lüscher. Trotzdem: «Die sozialen Medien spielen in der Schweiz im internationalen Vergleich eine marginale Rolle. Ich denke, da besteht noch grosses Potenzial.»
Nicht immer gelingen die Versuche einer sozialen Präsenz. «Die Parteien pröbeln herum. Doch wir befinden uns nicht mehr in einer Phase, wo man experimentieren kann», sagt Magali Philip. «Was publiziert wird, muss gut gemacht sein. Heute müssen die sozialen Kanäle von Spezialisten bewirtschaftet werden, und nicht von ein paar jungen Leuten, die dies auf freiwilliger Basis tun.»
«Wir befinden uns hier noch in einer Art Beta-Phase», sagt Balsiger. «Perfektion ist nicht vorrangig. Was zählt, ist hauptsächlich die Authentizität. Doch wenn etwas publiziert wird, was dilettantisch gemacht ist, kann das kontraproduktiv sein.»
Vorreiter fehlen
Über die sozialmediale Präsenz der Kandidierenden allerdings zieht Balsiger – wie auch Philip und Lüscher – eine eher dürftige Bilanz. «Es gibt einige wenige, die diese Netzwerke professionell einsetzen. Andere nutzen sie zwar, aber wenig kreativ. Und noch andere beginnen nur wenige Wochen vor dem Wahltermin damit und sind dann frustriert, weil sie auf kein grosses Echo stossen. Schliesslich gibt es jene, die Social Media überhaupt nicht nutzen. Sei es, weil sie keine Affinität zu diesen Kanälen haben, sei es, dass sie deren Einfluss als noch zu gering einschätzen.»
Zu sagen, «das ist nichts für mich», sei jedoch besser, als widerstrebend auf sozialen Netzwerken aktiv zu werden, betont Radiofrau Philip. «Wenn man nicht davon überzeugt ist, sollte man es besser sein lassen. Denn so zu tun als ob, bringt nichts.»
Von den 246 eidgenössischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern führen gemäss unseren Recherchen etwas über hundert Personen ein Twitter-Konto. Bei einigen von ihnen allerdings stammt der letzte Tweet noch fast aus der Steinzeit, zumindest in der Sprache des Internets.
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Das Beispiel Susanne Hochuli
In seinem Buch «Wahlkampf statt Blindflug»Externer Link präsentiert der Politologe Mark Balsiger vier besonders gelungene Beispiele eines Wahlkampfs. Darunter auch jener der Aargauer Regierungsrätin Susanne Hochuli von der Grünen Partei.
Sie wurde 2008 erstmals gewählt und empfahl sich 2012 für eine Wiederwahl. Doch die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) machte ihr den Sitz streitig.
Obwohl sie damit aus einer ungünstigen Position startete (im Aargau verfügt die SVP über eine Wählerstärke von mehr als 30%, die Grüne Partei kommt auf 9%), schaffte Hochuli die Wiederwahl, auch dank einer Kampagne auf sozialen Kanälen.
Während des Sommers 2011 wanderte Hochuli den Kantonsgrenzen entlang und dokumentierte ihre Exkursionen mit Fotos, Anekdoten, Erzählungen und Gedanken via Twitter und Facebook. Einige ihrer Tweets wurden schliesslich auf Plakate gedruckt.
Einer der Gründe für diese zaudernde Bereitschaft, Social Media einzusetzen, liegt laut Philip darin, dass es an Vorreiter-Persönlichkeiten fehlt. «Es gibt keine Beispiele wie Matteo Renzi in Italien, einer der ‹Twitter-Könige›. Von den sieben Bundesräten verfügen nur Alain Berset und Johann Schneider-Ammann über ein Twitter-Konto. Letzterer hat dieses erst kürzlich aktiviert und bewirtschaftet es ziemlich katastrophal. Es ist reine und harte Kommunikation. Berset kommt etwas ‹menschlicher› rüber, trotz der vielen Leute, die an seinen Tweets werkeln.»
Für Sandro Lüscher sind die Gründe auch im schweizerischen Wahlsystem zu suchen. «Gewählt wird in den Kantonen. Für einen Zürcher Politiker besteht grundsätzlich kein Anreiz, in der Romandie Wahlkampf zu betreiben.» Anders gesagt: «Die Möglichkeiten des Wahlkampfs sind räumlich stark eingeschränkt. Deswegen gibt es kaum Anreize, diesen auf den virtuellen Raum auszuweiten.» Auf einen Raum, der per Definition grenzüberschreitend ist.
Fünf goldene Regeln
Kritik ist die eine Seite. Doch welche Tipps haben die Experten für Neueinsteiger auf Lager? Mark Balsiger dampft sie auf die «i-hasi-Formel» ein. Sie steht für Interaktivität, Humor, Authentizität, Stetigkeit und Interessanz – dies sind die fünf goldenen Regeln zum Erfolg auf sozialen Medien, wie er zusammenfasst.
«Einen Tweet zu schreiben mit dem Inhalt, ‹Morgen werde ich auf Platz X in Bern sein und mein Programm verteilen, kommt zahlreich›, bringt absolut nichts; niemand wird kommen», bemerkt der Politologe.
Für die RTS-Journalistin haben viele nicht begriffen, dass man sich den Kodizes der sozialen Netzwerke anpassen und akzeptieren muss, seine Posts etwas flotter zu formulieren, als die Pressemitteilungen. Leichtigkeit, die aber nicht Oberflächlichkeit bedeutet: «Was publiziert wird, muss Hand und Fuss haben.»
Das Resultat der nächsten Wahlen wird sicherlich noch nicht davon bestimmt sein, was die Kandidaten auf Social Media veröffentlich haben oder nicht. Trotzdem kann sich eine gute Online-Strategie auszahlen.
«Heute kann ein Tweet genügen, um in eine Radio- oder TV-Sendung eingeladen zu werden. Egal, ob man ein bekannter Politiker ist oder ein Jungeinsteiger. Die sozialen Netzwerke sind ein sehr wichtiger Resonanzkasten, namentlich Twitter, das von Journalisten stark genutzt wird «, sagt Magali Philip.
Zeit investieren
Um diese neuen Instrumente allerdings gewinnbringend zu nutzen, muss Zeit investiert werden. Viel Zeit. Aber genau daran mangelt es Milizpolitikern wie jenen in der Schweiz oft. Doch man könne sich auch auf drei bis vier Posts pro Woche beschränken, meinen die Experten. «Wichtig ist, regelmässig zu posten», betonen Radiofrau Philip und Politologie-Student Lüscher.
Das eigene Web-Profil an Dritte zu delegieren, etwa an eine Kommunikations-Agentur, könne hingegen gefährlich werden, meint Mark Balsiger. «Diese Kanäle sind sehr persönlich. Werden die Mitteilungen von anderen gemacht und der Schreibstil ist anders als jener des Politikers, kann dies den Eindruck von etwas Falschem erwecken.»
Kürzlich habe er mit einem Nationalrat gesprochen, der sehr aktiv auf sozialen Netzwerken sei. «Er hat mir gesagt, er widme ihnen mehrere Stunden pro Tag. Beispielsweise beantwortet er jede Mitteilung persönlich. Und das ist es, was es braucht. Jene, die ihm schreiben, fühlen sich ernstgenommen und erzählen anderen, dass ihnen dieser Politiker persönlich geantwortet habe. Vielleicht sogar nicht einmal mit zwei, sondern mit fünf Sätzen und einem originalen Text und nicht einfach mit Zusammenkopiertem. Das ist es, was Wahlkampf heute bedeutet!»
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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