Über die inneren Gräben der Schweiz
Viele Themen, über welche die Schweiz in den letzten 160 Jahren abgestimmt hat, wiederholen sich. Drehen wir uns im Kreis oder kommen wir jedes Mal einen Schritt weiter? Das "Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848–2007" gibt Aufschluss.
Die Geschichte der Abstimmungen im schweizerischen Bundesstaat zeigt, wie hart umkämpft die demokratischen Entscheide sind.
Es geht um die Verfassung, ums Militär, um die Rechte für Ausländerinnen und Ausländer, um das Ausmass des Föderalismus und um vieles mehr.
Oft musste die Meinung der Bürger aufgrund des obligatorischen Referendums eingeholt werden, denn dieses ist seit der Zustimmung über die erste Bundesverfassung im Jahr 1848 in der Verfassung verankert.
Das bedeutet: Zu Änderungen der Verfassung muss der Bürger, seit 1971 auch die Bürgerin, befragt werden.
Referenden als Bremse
«Dass Verfassungsänderungen dem obligatorischen Referendum unterstehen, hat Spuren in der Schweizer Geschichte hinterlassen», sagt Christian Bolliger, Politologe und Mitautor des soeben erschienenen Handbuchs. «Die markanteste Folge ist vermutlich, dass der Sozialstaat in der Schweiz viel langsamer ausgebaut wurde als in anderen europäischen Staaten.» Das obligatorische Referendum habe sich wie auch das fakultative Referendum generell als «Bremse gegen Reformen» erwiesen, hält er fest.
Das fakultative Referendum wurde 1874 eingeführt. Damals mussten 30’000 Unterschriften gesammelt werden, damit die Schweizer Männer zu einer Vorlage befragt werden konnten. Ab 1978 waren dann 50’000 Stimmen nötig.
Das «Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848-2007» ist nicht nur eine Sammlung der Abstimmungen in der Schweiz der letzten 160 Jahre. Jedem Beitrag ist eine Vorgeschichte angefügt, die erläutert, wie es dazu kam, dass überhaupt über die Abstimmungsfrage abgestimmt wurde.
Diese Vorgeschichte und die Erläuterungen zum Verlauf des Abstimmungskampfs sind aufschlussreich, vertiefen sie doch den Einblick in die Überlegungen und helfen bei der Einordnung in die Zeitgeschichte. Sichtbar werden auch die Gräben, die tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten in der Bevölkerung,
Der Röstigraben
Der Röstigraben – laut Wikipedia ein «scherzhaften Ausdruck, mit dem der Unterschied der Mentalität und Kultur zwischen Deutschschweizern und Romands» bezeichnet wird – existiere seit der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848, sagt Christian Bolliger. «Der Röstigraben war in der Anfangszeit des schweizerischen Bundesstaates noch viel prägnanter als heute. Das grosse politische Thema war damals der Übergang vom Staatenbund zum Bundesstaat, also die Frage, wie viel Föderalismus und wie viel Zentralismus die Schweiz wollte.»
Die französischsprachige Schweiz habe starke Bedenken gegen eine Zentralisierung gehabt, was im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis zum 1. Weltkrieg zu grossen Auseinandersetzungen geführt habe. «Nachher flaute dieser Konflikt etwas ab. Erst im letzten Viertel des 20.Jahrhunderts wurde bei den Abstimmungen wieder häufiger erkennbar, dass die Romands anders stimmen als die Deutschschweizer.»
Der Stadt- Land- Graben
Auch den Stadt-Land-Graben kann man in den Abstimmungen schon feststellen, seit es den Bundesstaat gibt. «Er zeigt sich heute fast deutlicher und häufiger als das in der ersten Hälfte der Geschichte des Bundesstaates der Fall war», sagt Christian Bolliger.
«Er hat sich inhaltlich transformiert, früher ging es stärker um ökonomische Fragen.» Damals habe die Landbevölkerung die Interessen der Landwirtschaft vertreten, während in den Städten die industrielle und exportorientierte Wirtschaft das Sagen hatte und die Arbeitnehmer sich für niedrige Konsumgüterpreise einsetzten.
«Heute zeigt sich der Stadt/Land- Graben mehr bei unterschiedlichen kulturellen Auffassungen, bei Fragen, wie liberal die Schweiz sein soll. Bei der Abstimmung um die eingetragenen Partnerschaften für homosexuelle Paare zum Beispiel war deutlich, dass es um liberal versus konservativ ging. Dies äusserte sich im Stadt/Land-Graben.»
Ob die Städte dabei meistens die Abstimmungen verlieren, ist für den Politologen nicht eindeutig: «Es kommt darauf an, ob man die Agglomerationen zu den Städten zählen will oder nicht. Die Agglomerationen gehören fast nie zu den Abstimmungsverlierern.»
Arm/Reich-Graben
«Wir konnten den arm/reich-Graben mit unseren Methoden nicht so gut nachweisen. Vermutlich hat er sich durch die 160 Jahre auch stark verändert, weil die Wirtschafts- und damit auch die ökonomischen Gesellschaftsstrukturen viel komplexer und vielschichtiger sind», sagt Bolliger.
Früher habe man zwischen Arbeitern und Unternehmern unterscheiden können, heute gebe es viel feingliedrigere Abstufungen. Man sehe dies auch im Abstimmungsverhalten, «die klassischen Zuordnungen stimmen nicht mehr».
Das Handbuch endet 2007 mit der Abstimmung über die 5. IV-Revision, gegen die das fakultative Referendum ergriffen wurde. Die Vorlage wurde von den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern angenommen. Die Abstimmungen der Zwischenzeit bis heute sind auf der parallel zum Handbuch entwickelten Homepage www.swissvotes.ch nachzulesen.
Das «Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848 -2007» ist im Haupt Verlag erschienen.
Die Herausgeber sind Wolf Linder, Christian Bolliger und Yvan Rielle
Die Quellen sind das Bundesblatt, Flugschriften und Broschüren, Jahresberichte von Parteien und Verbänden und Zeitungen. Auch das Jahrbuch für Schweizerische Politik, das Année Politique Suisse und das Abstimmungsbüchlein des Bundesrates, das seit 1978 herausgegeben wird.
ISBN 978-3-258-07564-8
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