«Überdeutliches Signal» an die «Herren in Nadelstreifen»
"Götterdämmerung der Herren in Nadelstreifen", eine" unvergessliche Klatsche für den abgehobenen Teil der Elite", "Ein Mann, ein Sieg", "ein historischer Erfolg" der direkten Demokratie: Die Schweizer Presse wertet den Grosserfolg der Abzocker Initiative als Schlag gegen die Manager-Kaste.
«Selten hat der Spitzenverband der Wirtschaft so krachend, so vernichtend, so blutig, so jämmerlich verloren», kommentiert die Basler Zeitung und bezieht sich damit auf die millionenschwere, aber völlig erfolglose Kampagne des Wirtschaftsdachverbandes economiesuisse gegen die Initiative.
«Seit dem Generalstreik von 1918 lag das Ansehen des wirtschaftlichen Establishments dieses Landes wohl noch nie so tief wie heute. Götterdämmerung der Herren in Nadelstreifen», so das Blatt: «Nicht über den Kapitalismus an sich haben die Schweizerinnen und Schweizer dieses Wochenende den Stab gebrochen, nein, man urteilte über die wirtschaftlichen Eliten dieses Landes insgesamt – und verurteilte sie zu lebenslänglicher Schande.»
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Mit Rückenwind allein gegen den Rest der Welt
Vasella: nachgerade «gesinnungskriminell»
«Die Grosswirtschaft und ihre Lobbyisten haben die Rechnung für ihre jahrelange Arroganz wie Ignoranz kassiert», schreit die Aargauer Zeitung (AZ) und erinnert an die exorbitanten Löhne der Spitzen-Banker, die eindrücklich bewiesen hätten, «dass Fantasiesaläre in einem erschreckenden Zusammenhang mit brutaler Selbstüberschätzung und Überforderung stehen können». Dass das Economiesuisse-Vorstandsmitglied Daniel Vasella nur wenige Wochen vor der Abstimmung 72 Millionen Abgangsentschädigung hätte erhalten sollen, sei «nachgerade gesinnungskriminell», so die AZ.
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Grosserfolg für die Abzocker-Initiative
Schlupflöcher für «Halunken in Kravatte»
Thomas Minder, der Initiant hingegen habe es «allen gezeigt», schreibt der Blick. 68% Ja-Stimmen, das sei ein «Triumph über die mächtigste Lobby des Landes».
Der parteilose Schaffhauser Ständerat und Kleinunternehmer, Thomas Minder werde «in die Geschichtsbücher unseres Landes eingehen», schreiben die Neue Luzerner Zeitung . Er habe dem «abgehobenen Teil unserer Eliten eine unvergessliche Klatsche verpasst».
Bundesrat und Parlament seien nun «gut beraten, Minders Initiativtext konsequent umzusetzen» und so den Volkswillen zu respektieren. Dennoch gelte es in der «Sache allerdings vor Illusionen zu warnen. Auch künftig wird es Halunken in Krawatte geben, die Schlupflöcher zur Bereicherung finden».
Mit der Abzocker-Initiative sind seit 2004 insgesamt sieben Volksbegehren angenommen worden. Davon stammen nicht weniger als vier von Absendern, die sich mit ihren Anliegen vom politischen Establishment ausgegrenzt fühlten und darum zur Selbsthilfe griffen.
Zu diesen Einzelkämpfern gehört die St. Gallerin Anita Chaaban. Nach der Vergewaltigung ihrer Patentochter hatte die Hausfrau 1988 praktisch im Alleingang eine Initiative «für die lebenslange Verwahrung von Sexual- und Gewaltstraftätern» lanciert. Das Begehren wurde 2004 angenommen.
Einen weiteren Überraschungserfolg landeten 2008 die Genferin Christine Bussat und ihre Elternorganisation Marche Blanche. Ihre Vorlage «für die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten mit Kindern» schaffte die Abstimmungshürde allerdings nur knapp.
Obwohl seit über 40 Jahren mit politischen Vorstössen aktiv, haftet auch Natur- und Tierschützer Franz Weber hartnäckig das Etikett des Aussenseiters an. Im März 2012 wurde Webers Zweitwohnungs-Initiative vom Volk angenommen.
Seilziehen geht weiter
«Das Seilziehen geht in die nächste Runde», titelt die Berner Zeitung ihren Kommentar und stellt fest, dass die Initiative «nun in ein Gesetz gegossen werden» müsse. Zwar forderten jetzt auch die Initiativgegner «unisono und im Brustton der Überzeugung, die Initiative müsse rasch und kompromisslos umgesetzt werden» .Doch: «Sobald man aber massgebliche Details anspricht, scheint es plötzlich doch nicht ohne Kompromisse zu gehen. Wegen solcher Differenzen ist der Kampf für Minder noch nicht ausgestanden.»
Für die Neue Zürcher Zeitung ist das Abstimmungsresultat ein «Überdeutliches Signal», das auf «das Unvermögen des politischen und wirtschaftlichen Establishments, das weitverbreitete Unbehagen über die Salär- und Boni-Exzesse ernst zu nehmen», zurückzuführen sei. Nun gehe es darum, die Initiative «geradlinig, aber auch mit Augenmass» umzusetzen.
«Triumph eines Empörten»
Für die Westschweizer Le Temps widerspiegelt das deutliche Ja den «Triumph eines Empörten». Die Mehrheit des Parlaments trage daran » eine sehr grosse Verantwortung, weil sie mehrere Jahre zögerte und einen richtigen Gegenvorschlag verweigerte». Die Niederlage des Wirtschaftsmilieus zeige, dass dieses «an direktem Einfluss verliert».
Der Quotidien Jurassien wertet die «grosse Unterstützung für Minder» als «demokratische Reaktion auf die Ignoranz einiger Topmanager; ein verabscheuungswürdiges Verhalten, von dem schliesslich das ganze Land angewidert war».
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