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Ukraine: Krieg bis zum Sieg oder Konzessionen für den Frieden?

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Vor kurzem sprach sich die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats dafür aus, dass in der Schweiz hergestelltes Kriegsmaterial unter gewissen Umständen von anderen Ländern an kriegsführende Staaten weitergegeben werden dürfen. Adrien Vautier

Kann die expansive militärische Unterstützung der Ukraine den Krieg beenden und wie gross sind die Chancen der Diplomatie, einen Friedensprozess zu lancieren? SWI swissinfo.ch hat am Basel Peace Forum zwei ukrainische Expert:innen nach ihren Einschätzungen gefragt.

Yuliia Mieriemova ist Postdoktorandin am Lehrstuhl «Gender, Krieg und Sicherheit» an der Universität Basel. Sie forscht zur Rolle der Frauen im Ukraine-Krieg und hat erst kürzlich mit ukrainischen Kämpferinnen gesprochen.

Die Frauen hätten ihr gegenüber zwar alle betont, dass sie Frieden wollten, erzählt die Politikwissenschaftlerin am Rande des Basel Peace Forums «Aber als ich sie fragte, was Frieden bedeutet, sagten sie: Sieg.»

Für Mieriemova hat Frieden andere Vorbedingungen. Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht für Russland als Aggressor sind für sie unverzichtbare Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden. Andernfalls werde der Konflikt nicht gelöst, sondern nur vertagt.

«Ein eingefrorener Konflikt ist eine eingefrorene Lösung», sagt Mieriemova. Das Szenario in Moldawien und Georgien, beides instabile ehemalige Sowjetrepubliken, dürfe sich nicht wiederholen.

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Die Ukraine müsse für sich das Recht beanspruchen, selbst zu entscheiden, wann sie an den Verhandlungstisch zurückkehren wolle, ist Mieriemova überzeugt. «Das kann erst dann der Fall sein, wenn ihre Verhandlungsposition stärker ist als diejenige des Aggressors.» Dazu brauche sie aber die volle militärische Unterstützung Europas.

Gespaltenes Europa

Aber genau diese uneingeschränkte militärische Hilfe ist in Europa umstritten. Zwar befürworteten in einer UmfrageExterner Link im September eine Mehrheit der Einwohner:innen von sieben europäischen Ländern Waffenlieferungen von der EU an die Ukraine. Die Zustimmung war mit 55% aber knapp.

Und in einigen Ländern, etwa in Italien, sprach sich mit 39% nur eine Minderheit dafür aus. In einer anderen StudieExterner Link im November befürworteten sogar nur 30% der befragten Italienerinnen und Italiener Waffenlieferungen aus dem eigenen Land an die Ukraine, in Deutschland waren es 48%.   

Diese Tendenz widerspiegelt sich auch in der Aussenpolitik einiger Länder: So zögerte zum Beispiel Deutschland lange, Leopard-2-Panzer in die Ukraine zu liefern, um keinesfalls selbst Kriegspartei zu werden. Auch gibt es die Befürchtungen, dass die eigene Verteidigungskapazität geschwächt werden oder sogar eine atomare Eskalation drohen könnte.

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Maksym Yakovlyev, Leiter des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen an der Kiewer Mohyla-Akademie, der Nationalen Universität der Ukraine, versteht die Ängste der Europäer:innen, in einen langwierigen Krieg mit hohen humanitären und militärischen Kosten hineingezogen zu werden.

Dennoch sieht auch er in der militärischen Unterstützung der Ukraine gegen Russland den einzigen Weg zum Frieden. Ansonsten würde ein falsche Signal gesendet, an alle Diktator:innen auf der Welt. Yakovlyev folgert: «Wenn Europa den russischen Aggressoren nicht die Stirn bietet, wird der Preis später höher sein.»

Geeintes Europa

Die direkten Nachbarländer Russlands seien sich dieser Tatsache am meisten bewusst. Trotz Ressourcenknappheit lieferten einige Länder wie Dänemark und Polen auch zu ihrem eigenen Nutzen militärische Hilfe, sagt Ykovlyev.

«Finnland war lange ein neurales Land, aber heute ist es einer der grössten Unterstützer der Ukraine, weil es selbst das Elend der russischen Besatzung erlebt hat.» Auch beantragten nun neutrale Länder wie Finnland und Schweden den Nato-Beitritt. Aber das bleibe alles nur Tropfen auf einen heissen Stein.

Wolfgang Ischinger, der ehemalige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, sagte kürzlich in einem Interview mit der Zeitung «Welt am Sonntag» die Ukraine feuere an einem Tag so viel Munition ab, wie Deutschland in einem halben Jahr produziere. Die Aussage rückt die Verhältnisse in den Blick. Europa ist als Einheit gefordert.

«Jetzt hat Europa verstanden, dass man nicht länger wegschauen kann». Yuliia Mieriemova

Für die Gender-Forscherin Mieriemova ist klar, dass Europa zu lange weggeschaut habe. Während des Angriffs Russlands und der Okkupation der Halbinsel Krim 2014 hätten die europäischen Länder noch an den Olympischen Winterspielen in Sotchi teilgenommen.

«Acht Jahre später führt Russland wieder einen Krieg. Das war alles absehbar, aber jetzt hat Europa verstanden, dass man nicht länger wegschauen kann, auch wenn es darum geht, eine strategische Autonomie in Bezug auf Energie und Sicherheit zu erreichen. Es ist das erste Mal, dass Europa nach dem Zweiten Weltkrieg so geeint ist.»

Die Schweiz verhandelt ihre Neutralität

Auch die Unterstützung der Schweiz sei wichtig, sagt Yakovlyev. «Jede verzögerte militärische Hilfe verlängert den Krieg und zermürbt nicht nur Russland, sondern auch die Ukraine.»

Die Schweiz müsse anderen Ländern die Weitergabe der Munition erlauben, fordert er. Und sie müsse «die Gelder der Oligarchen beschlagnahmen und für den Wiederaufbau der zerstörten ukrainischen Dörfer und Infrastruktur freigeben».

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Inzwischen laufen in der Schweiz tatsächlich Bestrebungen, die Neutralität neu zu interpretieren: Vor kurzem sprach sichExterner Link die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats dafür aus, dass in der Schweiz hergestelltes Kriegsmaterial unter gewissen Umständen von anderen Ländern an kriegsführende Staaten weitergegeben werden dürfen. Eine Mehrheit argumentierte, die Schweiz müsse ihren Beitrag zur europäischen Sicherheit leisten und die Ukraine stärker unterstützen.

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Auch eine knappe Mehrheit der Bevölkerung scheint diese Kehrtwende der Schweizer Politik zu befürworten: In einer Umfrage im Auftrag der NZZ am SonntagExterner Link sagten 55% der Befragten Ja oder eher Ja zur Frage, ob die Schweiz anderen Ländern die Weitergabe von Schweizer Waffen an die Ukraine erlauben soll.

Nur noch 40% antworteten mit Nein oder eher Nein. Erst im letzten Dezember hatten sich noch 64% der BefragtenExterner Link dafür ausgesprochen, dass die Schweiz neutral gegenüber Russland und der Ukraine bleiben sollte.

Vom «Worst Case Szenario» herdenken

Yakovlyev glaubt, dass die Schweiz zum richtigen Zeitpunkt ihre lange Erfahrung in der Diplomatie und Friedensbildung einbringen und vor allem beim Wiederaufbau eine wichtige Rolle spielen kann. «Die Lugano-Konferenz war ein Meilenstein.»

Dennoch bleibe Frieden zurzeit Wunschdenken. Deshalb lebe er nach dem Motto: «Im Krieg handeln, als gäbe es keinen Frieden und im Frieden verhandeln, als gäbe es keinen Krieg.»

Er und seine Familie lebten getrennt voneinander, da er aufgrund der Wehrpflicht in der Ukraine bleiben müsse, während seine Frau und sein zweijähriges Kind in Frankreich im Exil lebten. «Ich hatte nie ein Gewehr in der Hand, aber ich bin bereit», sagt der Politikwissenschaftler.  

Der Traum vom Frieden sei für ihn an ein sicheres Heimatland gebunden, und das sei nur möglich, wenn die russischen Soldaten aus der Ukraine abziehen. «Eine Entmilitarisierung und Entnuklearisierung der Grenzgebiete wie der Krim am Ende des Krieges wäre vielleicht erstrebenswert», sagt er weiter. «Aber es wäre kontraproduktiv, ein Friedensabkommen um jeden Preis zu wollen, insbesondere, wenn Putin keine Bereitschaft zu Verhandlungen zeigt.»

«Was würde ein Frieden der besiegten Ukraine für die Zukunft der Sicherheit und des Friedens in Europa und der Welt bedeuten?» Maksym Yakovlyev

Yakovlyev stellt das Worst Case Szenario ins Zentrum seiner Gedanken. «Heute muss man vor allem die Frage stellen, was passieren würde, wenn Europa die Ukraine nicht genug unterstützen und Kiew den Krieg verlieren würde?» Und er fragt weiter: «Was würde ein Frieden der besiegten Ukraine für die Zukunft der Sicherheit und des Friedens in Europa und der Welt bedeuten?»

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Ein Sieg von Putins Russland würde das autoritäre Regime in Russland weiter stärken. Hingegen, erinnert Yakovlyev daran, dass «wenn wir aber auf die Geschichte des Russischen Reichs zurückblicken, dann können wir feststellen, dass es nach militärischen Niederlagen durchaus auch zu Regimewechseln kam».

Editiert von Marc Leutenegger

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