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«Wir müssen die Schweizer Neutralität überdenken»

Christophe Farquet

Die Gilde der Schweizer Historiker:innen verkenne die Bedeutung der Neutralität für die Schweizer Aussenpolitik, und zwar aus politischen Gründen, schreibt Historiker Christophe Farquet von der Universität Genf und fordert eine offene Diskussion.

Die Schweizer Neutralität wurde nicht im Jahr 1515 erfunden. Diese Ansicht ist in der Schweiz mittlerweile weitgehend akzeptiert. Warum genau die These von der Entstehung der Neutralität in Marignano ein Mythos ist, wissen jedoch die wenigsten.

Diese historische Unschärfe führt in der öffentlichen Meinung dazu, dass sich traditionalistische Auffassungen gegenüber kritischeren Sichtweisen auf die Vergangenheit behaupten können.

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Die öffentliche Debatte über die Geschichte der Neutralität geht deshalb nicht über eine unfruchtbare Konfrontation hinaus, die auf politischen Ansichten beruht. Eine Diskussionsebene, die selbst Historiker:innen nur schwer überwinden können. 

Via Söldnertum an Kriegen beteiligt    

Es ist in der Tat leicht, die Vorstellung einer neutralen Schweiz seit Marignano zu entkräften.

Im Ancien Régime wurde die Schweizer Neutralität auf eine minimale Dimension beschränkt, die nicht dem heutigen Verständnis entspricht. Die Neutralität hinderte die Eidgenossen beispielsweise nicht daran, sich als Söldner an den europäischen Kriegen zu beteiligen – mit Unterstützung der Behörden. Allein dieses Beispiel verdeutlicht, wie weit die Neutralität des 16. bis 18. Jahrhunderts von der heutigen entfernt ist.

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Selbst wenn man die Neutralität in ihrem engsten Sinn versteht – dass ein Land nicht bei militärischen Konflikten mit anderen Staaten mitmacht –, hat die Schweiz auch nach 1515 die Neutralität verletzt: Die Eroberung des Waadtlandes von Savoyen im Jahr 1536 stellte eine bewaffnete Ausweitung des helvetischen Territoriums dar.

Zweieinhalb Jahrhunderte später, im Jahr 1798, wurde die Schweiz durch die Invasion der französischen Truppen zu einem Satellitenstaat Frankreichs – und einem Schlachtfeld: Die Neutralität wurde für 17 Jahre, also bis ins Jahr 1815, einfach ausgesetzt. 

Neuer Anlauf im Jahr 1815

Wenn 1515 als Gründungsjahr der Schweizer Neutralität also in den Rang eines Mythos verwiesen werden muss, stellt dieses zweite Datum drei Jahrhunderte später, also 1815, nicht den konstituierenden Moment der Schweizer Neutralität dar?

Nach den napoleonischen Kriegen garantierten die europäischen Grossmächte der Schweiz im Vertrag von Paris vom 20. November 1815 eine immerwährende Neutralität. Seitdem hat die Eidgenossenschaft an keinem bewaffneten Konflikt mehr teilgenommen. Auch wurde ihr Territorium nie mehr besetzt.  

Es wäre daher sinnvoller zu behaupten, dass die Neutralität der Schweiz auf die Restauration zurückgeht. Dennoch kann eine ganze Reihe von Argumenten angeführt werden, um die Bedeutung dieser Wende, wenn nicht zu bestreiten, so doch zumindest zu relativieren.

Es sei daran erinnert, dass die Schweiz 1817 der Heiligen Allianz [Zusammenschluss Russlands, Preussens und Österreichs nach dem Wiener Kongress 1815, A.d.R.] beitreten musste, um zu verstehen, wie stark die Neutralitätsgarantie der Grossmächte mit Ambiguität behaftet war.

Auf längere Sicht wird deutlich, dass die Neutralität nicht von einem Tag auf den anderen zu einem endgültigen Schwerpunkt der Schweizer Aussenpolitik wurde: Anfangs des 20. Jahrhunderts fragte sich die schweizerische Führung zögerlich, welche Politik sie angesichts eines möglichen europäischen Krieges verfolgen sollte. Im Juli 1915 erliess General Ulrich Wille das berühmte Memorandum, in dem die Schweiz aufgefordert wurde, an der Seite der Mittelmächte in den Weltkrieg einzutreten. Und welche Bedeutung hatte die Schweizer Neutralität zwischen 1940 und 1943, als das Land von Nazi-Deutschland und seinen Verbündeten umzingelt war?

Jenseits des Mythos und seiner Dekonstruktion

Angesichts dieser Aufzählung liegt die Schlussfolgerung nahe, dass, wenn die Schweizer Neutralität eine einzige Konstante habe, diese in ihrer Formbarkeit zu suchen sei.

Zu dieser Aussage haben die Schweizer Historiker:innen in den letzten zwei Jahrzehnten tendiert. Das zeigen auch ihre Beiträge zur Frage der Neutralität während des Ukraine-Konflikts im Jahr 2022.

Laut Hans Ulrich Jost gleicht die Schweizer Neutralität historisch gesehen einem „Kaugummi“. Im Laufe des Jahres schlossen sich ihm in dieser relativistischen Richtung unter anderem Georg Kreis, Jakob Tanner und Marc Perrenoud an.

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Diese medialen Stellungnahmen mögen zwar vom Mitgefühl mit dem ukrainischen Volk beeinflusst worden sein, dennoch sind sie repräsentativ für eine dominante Strömung in der Schweizer Geschichtsschreibung.

Da die retrospektive Analyse der Neutralität tendenziell mit einer konservativen Haltung in Verbindung gebracht wird, die längst aus dem akademischen Feld verschwunden ist, muss sie dekonstruktivistisch sein, um nicht der Nachgiebigkeit gegenüber dem Nationalismus verdächtigt zu werden.

Das Problem ist, dass die Spezialist:innen für die Geschichte der internationalen Beziehungen im Zuge ihrer Bemühungen, Mythen zu entkräften, dazu übergegangen sind, einen wesentlichen Teil der Schweizer Aussenpolitik in ihren Studien wegzulassen.

Die auswärtigen Beziehungen der Schweiz in der modernen Zeit können aber nur dann richtig verstanden werden, wenn die Neutralität als eine der bedeutsamsten Dimensionen der Schweizer Politik betrachtet wird. Diese unwiderlegbare Prämisse gilt es wiederherzustellen, um die Geschichtsschreibung bezüglich dieser Thematik wieder voranzubringen.

Verstoss gegen Neutralität bedeutet nicht ihre Abschaffung

Neutralität kann nicht darauf reduziert werden, keine Kriege zu führen. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wird Neutralität auch durch die Einhaltung des Völkerrechts gemäss den Bestimmungen der Haager Konventionen von 1907 definiert. Es ist jedoch unbestreitbar, dass die Schweiz von diesen Grundsätzen auch schon abgewichen ist, beispielsweise während der beiden Weltkriege.

Darüber hinaus kann Neutralität allgemein bedeuten, dass ein Staat eine ausgewogene Haltung zwischen den verschiedenen Mächten einnimmt. Gegen eine so verstandene Neutralität hat die Schweiz in ihrer Geschichte noch viel häufiger verstossen.

Dennoch nehmen diese rechtlichen und politischen Anpassungen der Neutralität nicht ihre Konsistenz: Erstens hat sich die Schweiz aus militärischen Konflikten stets herausgehalten. Zweitens wurden diese Anpassungen von der Schweizer Führung mehrheitlich nicht als Chancen, sondern als kostspielige und vorübergehende Abweichungen von einer Norm wahrgenommen. Und drittens wurden viele dieser Abweichungen – vor allem in Kriegszeiten – gerade mit dem Ziel akzeptiert, andere Teile der Schweizer Neutralität zu bewahren.

Neutralität während des Ukraine-Kriegs

Das Gesagte hilft, die aktuelle Schweizer Politik während des Ukraine-Krieges besser nachzuvollziehen.

Es wäre falsch zu glauben, dass dieser Krieg die Nichtigkeit der Schweizer Neutralität gezeigt hätte. Nicht zuletzt deshalb, weil die Eidgenossenschaft im Gegensatz zu Schweden nicht der NATO beitreten wird und somit dem Grundsatz der Nichtkriegsführung treu bleibt. Hier und nicht in den wenigen vorgenommenen Anpassungen liegt das entscheidende Moment der Schweizer Aussenpolitik.

Darüber hinaus muss man sich aus rechtlicher Sicht darüber im Klaren sein, dass die heutige Auffassung der Schweizer Neutralität sowohl eingeschränkter als auch umfassender ist als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Einerseits wurden Wirtschaftssanktionen vor dem Zweiten Weltkrieg als Verstoss gegen die Neutralität angesehen, während sie heute – ob zu Recht oder zu Unrecht – als gänzlich mit ihr vereinbar angesehen werden.

Andererseits gehen die Schweizer Regeln, indem sie jegliche Waffenexporte in kriegführende Länder verhindern, über die Bestimmungen des Haager Übereinkommens und die resultierende helvetische Praxis bis zum Zweiten Weltkrieg hinaus.

Die Schweizer Regierung verfolgt – beeinflusst durch die Europäische Union – eine pro-ukrainische Politik. Es scheint, als ob die Schweiz mit den Sanktionen Kritiker:innen besänftigen will, bis der Krieg vorüber ist. Es handelt sich folglich eher um ein diplomatisches Mittel.

Das Bergier-Syndrom und seine Folgen

Vor zwanzig Jahren analysierte die so genannte Bergier-Kommission die internationalen Geschäfte des Schweizer Finanzplatzes seit den 1930er-Jahren und die Integration der Schweizer Wirtschaft in den von Nazi-Deutschland kontrollierten Raum. Sie verpasste es allerdings, etwas zum allgemeinen Verständnis der Schweizer Aussenpolitik vor und während des Zweiten Weltkrieges beizutragen. Im Gegenteil: Die publizierten Bände trugen sogar zu der kollektiven Illusion bei, dass die Neutralität nur eine Wunschvorstellung der neuzeitlichen Schweizer Aussenpolitik gewesen sei.

Seitdem haben sich die Schweizer Historiker:innen mit anderen Themen beschäftigt, die sie allmählich von der Geschichte der Aussenpolitik und der Neutralität weggeführt haben.

Dies hat dazu geführt, dass Historiker:innen heute kaum noch in der Lage sind, sich den heiklen Fragen der Schweizer Geschichte während Europas Kriegen zu stellen. Die skandalösen Lücken im jüngsten Bührle-Bericht sind der beste Beweis dafür, ebenso wie die einfachen historischen Parallelen, die zum ukrainischen Fall gezogen werden.

Die Geschichte der Schweizer Aussenpolitik scheint dazu verurteilt, als Schlachtfeld zwischen einer traditionalistischen Sichtweise und einer dekonstruktivistischen Perspektive – die ihren eigenen Untersuchungsgegenstand abschafft – zu dienen.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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