«Halten wir an traditionellen Methoden fest, überholt die Technologie die Politik»
Digitale Technologien sollen der Welt mehr Chancen als Risiken bringen. Dafür will Amandeep Gill, der neue Technologiebeauftragte der Vereinten Nationen, mit Ländern, Privatunternehmen und Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten.
Als wir uns an einem Donnerstag Mitte Juli am späten Nachmittag zum Gespräch zusammensetzen, steht Amandeep Gill kurz vor einem Stellenwechsel. Sein baldiges ehemaliges Büro in der «Maison de la Paix», dem Sitz des Genfer Hochschulinstituts, ist fast leer.
Nur ein paar Kisten voller Bücher stapeln sich noch im Raum. Am Montag danach, dem 18. Juli, trat Gill sein Amt als neuer Technologiebeauftragter der Vereinten Nationen (UNO) in New York an.
UNO-Generalsekretär António Guterres selbst hat Gill dazu ernannt, die UNO in das digitale Zeitalter zu führen. Und obwohl Gill nicht der erste UNO-Techbeauftragte überhaupt ist, bleibt noch fast alles zu tun: Die Stelle wurde 2021 geschaffen, aber die Amtszeiten seiner Vorgängerin und seines Vorgängers waren entweder gekürzt worden oder interimistisch.
Die Aufgabe, vor der Gill und sein Büro stehen, mag entmutigend erscheinen. Aber der neue Gesandte gibt sich zuversichtlich. «Ich bin natürlich aufgeregt, und ich fühle mich auch geehrt. Ich bin nicht nervös: Das ist etwas, das ich schon eine Weile ausgeübt habe», sagt er.
Der Inder studierte Elektronik und Telekommunikation. Er trat 1992 in den diplomatischen Dienst seines Landes ein und war in Teheran und Colombo stationiert. 2016 wechselte er nach Genf, um als indischer Botschafter und ständiger Vertreter bei der UNO-Abrüstungskonferenz zu dienen.
Zwischen 2018 und 2019 leitete er das «High-Level Panel on Digital Cooperation» der UNO. Es zeigte gemeinsam mit Regierungen, dem Privatsektor, der Zivilgesellschaft und anderen Möglichkeiten zur Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit im digitalen Raum auf.
Seit 2019 und bis zu seiner Ernennung als Technologiebeauftragter war Gill Geschäftsführer des «International Digital Health & AI Research Collaborative» (I-DAIR). Es soll internationale Kooperationen zur verantwortungsvollen Forschung und Entwicklung von künstlicher Intelligenz (KI) und digitalen Technologien für die Gesundheit erleichtern.
Gill leitete auch die UNO-Verhandlungen über tödliche autonome Waffensysteme und half bei der Ausarbeitung einer Unesco-Empfehlung zur KI-Ethik.
Als Ingenieur und Diplomat hat sich Gill in eine einzigartige Position gebracht. Er veranschaulicht die Vielfalt des so genannten internationalen Genfer Ökosystems, in dem eine Gruppe von Fachleuten genauso gut über ein Verbot von Killerrobotern verhandeln kann wie darüber, wie künstliche Intelligenz bei der Früherkennung von Krebs helfen kann.
Seit seiner Ankunft in der Rhonestadt im Jahr 2016 war Gill in der Tat an all diesen Diskussionen beteiligt – und noch mehr.
Anlaufstelle für Technologien
Da digitale Themen auf den Agenden der Regierungen weltweit ganz oben stehen, war es laut Gill «nur natürlich, dass die UNO über eine Anlaufstelle nachdachte» – den UNO-Beauftragten für Technologie –, um die technologischen Entwicklungen und deren Auswirkungen auf die Arbeit der Organisation zu verfolgen. Sei es in den Bereichen Frieden und Sicherheit, Menschenrechte oder Entwicklung.
Er weist aber auch darauf hin, dass die digitale Welt, anders als die physische, keine Grenzen kennt. Um sicherzustellen, dass die digitalen Technologien der ganzen Welt zugutekommen, oder um deren Missbrauch zu verhindern, sei internationale Zusammenarbeit erforderlich – eine Aufgabe für die UNO und ihren neuen Gesandten, so Gill.
«Die UNO ist die wichtigste Institution der internationalen Gemeinschaft für multilaterale Zusammenarbeit. Sie ist das universellste Forum, in dem jedes Land eine Stimme hat. Und sie kann diese neutrale Vermittlerrolle übernehmen.»
Über seine Zeit in Genf sagt der neue Technologiebeauftragte, er habe gelernt, über die «traditionellen Wege zur Förderung von Normen» hinauszublicken.
Die Instrumente der internationalen Zusammenarbeit, wie Verträge und Konventionen, seien grossartige Möglichkeiten, um Vereinbarungen zwischen mehreren Parteien zu erreichen, aber sie erforderten viel Zeit.
«In der digitalen Welt bewegen sich die Dinge in einem sehr schnellen Tempo. Wenn wir an unseren traditionellen Methoden festhalten, ist die Technologie schneller als die Politik», sagt Gill.
Seiner Meinung nach müssen wir flexibler sein, mehr vorhersehen und uns auf eine Mischung aus weichen und harten Normen verlassen – zum Beispiel auf unverbindliche Empfehlungen und auf rechtsverbindliche Verträge.
Ausserdem sei es wichtig, Stimmen ausserhalb der Politik und der Diplomatie einzubeziehen, etwa aus Zivilgesellschaft und Privatsektor.
«Wir müssen besonders die Tech-Community miteinbeziehen. Denn sie entwickelt die Technologien. Und oft meinen sie es nicht böse, aber sie verstehen nicht alle Konsequenzen.»
Gemeinsame Grundsätze
Nächstes Jahr soll in New York der Zukunftsgipfel stattfinden. Daraus könnte ein neues Governance-Instrument hervorgehen. An der Konferenz werden voraussichtlich alle 193 UNO-Mitgliedstaaten teilnehmen.
Der Gipfel soll die Form eines Abkommens mit der Bezeichnung «Global Digital Compact» annehmen. António Guterres erhofft sich davon, dass es «gemeinsame Grundsätze für eine offene, freie und sichere digitale Zukunft für alle» umreisst.
Dieses Dokument werde dringend benötigt, argumentiert der neue Technologiebeauftragte. Er weist darauf hin, dass es heute kein einheitliches Konzept für die Regelung digitaler Technologien gibt.
Während einige Länder und Staatengemeinschaften – wie kürzlich China oder die Europäische Union – Rechtsvorschriften von oben nach unten erlassen haben, überlassen andere – wie die USA – die Regulierung durch Industriestandards dem Privatsektor.
Diese Zweiteilung sei für viele Länder verwirrend, «die mit der Bewältigung des digitalen Wandels zu kämpfen haben», so Gill. Er hofft, dass der «Compact» zum «Referenzdokument» für die Bewältigung des digitalen Wandels wird.
«Eine gemeinsame Vision, ein gemeinsames Verständnis sowie Klarheit darüber, was potenzielle Probleme sein könnten oder verschiedene Möglichkeiten sind, sendet ein Signal an Regierungen und Investoren aus dem Privatsektor über bestimmte Handlungsbereiche und gute Möglichkeiten für den Einsatz digitaler Technologien», sagt Gill.
Dies sei besonders wichtig, da die Welt bei der Umsetzung der UNO-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung ins Hintertreffen geraten sei.
Gill sieht den «Global Digital Compact» jedoch nicht als Endpunkt. Vielmehr hofft er, dass er als Grundlage für die Organisation regelmässiger Treffen bei den Vereinten Nationen dient, an denen nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch andere Akteurinnen und Akteure aus dem digitalen Bereich teilnehmen – von Privatunternehmen über Forschende bis hin zu Mitgliedern der Zivilgesellschaft.
Der «sanfte Druck», der sich aus der Beobachtung durch andere ergebe, würde dazu beitragen, dass «diese Prinzipien, die Bestrebungen und Eigenschaften des Pakts verstanden und angewandt werden. Und wenn es Schwierigkeiten gibt, können wir darüber diskutieren, wie wir diese lösen können», sagt Gill.
Herausforderungen
Natürlich weiss Gill, dass die digitalen Technologien eine Menge Herausforderungen mit sich bringen. Unternehmen der sozialen Medien mit ihren undurchsichtigen Algorithmen wurden beispielsweise in den letzten Jahren dazu benutzt, Wahlen zu beeinflussen und die Unterdrückung durch autoritäre Regierungen zu verstärken. Aber sie haben auch Menschen eine Stimme gegeben, die sonst keine gehabt hätten.
Der Einsatz digitaler Technologien durch Regierungen wirft manchmal auch Probleme auf. Die Gesichtserkennung kann beispielsweise dazu eingesetzt werden, um vermisste Kinder wieder mit ihren Familien zusammenzuführen.
Mit derselben Technologie können aber auch Profile von ethnischen Minderheiten erstellt und ihre Menschenrechte beschnitten werden.
«Bei diesem empfindlichen Gleichgewicht kann die UNO eine wichtige Rolle spielen», sagt Gill. Als neutrale Vermittlerin könne die UNO auf Risiken und potenziellen Schaden hinweisen.
«Und hier geht es nicht um die ideologische Ausrichtung verschiedener Länder, sondern um Menschenrechte. (…) Die UNO spielt also eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, diese Themen ins Rampenlicht zu rücken», so Gill.
Der Technologiebeauftragte ergänzt, dass die UNO mit Regierungen, aber auch mit dem Privatsektor und der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten müsse, um sicherzustellen, dass der digitale Raum «inklusiv» und «sicher für alle» sei.
«Menschenzentrierte» Technologien
Gill sagt, es sei unmöglich, ein einziges Thema herauszugreifen, dem sein Büro Priorität einräumen sollte. «Man muss in diesem Bereich einen vielfältigen Garten anlegen.»
Da sich die verschiedenen Länder in unterschiedlichen Stadien der digitalen Transformation befinden, sind ihre Bedürfnisse und Herausforderungen sehr unterschiedlich.
Nach Angaben der UNO ist fast die Hälfte der Weltbevölkerung, vor allem Frauen und Menschen in Entwicklungsländern, nicht online. Da sie nicht daheim oder unterwegs arbeiten oder lernen können, sind diese Menschen von der Covid-19-Pandemie besonders betroffen.
Die Überwindung der digitalen Kluft ist für sie eine Priorität. In der Zwischenzeit kämpfen die Industrieländer mit Fragen des Datenschutzes und dem ethischen Dilemma, immer komplexere Entscheidungen von Maschinen treffen zu lassen.
Mehr
Die Maschine und die Moral
Auf persönlicher Ebene räumt der neue Technologiebeauftragte jedoch ein, dass ihm das Metaversum – virtuelle Welten, z.B. soziale Netzwerke, die auf der virtuellen Realität basieren – Sorgen bereite. Dies besonders im Hinblick auf den Schutz der Privatsphäre, die Menschenrechte und das menschliche Handeln.
«Wie viel Zeit verbringen wir mit Problemen der realen Welt, unseren analogen Problemen, und wie viel Zeit verbringen wir in der Fantasie? Es könnte zu gesellschaftlichen Veränderungen führen, über die wir nicht genug nachgedacht haben», sagt Gill.
Das Nachdenken über diese Risiken bedeute aber nicht, auf die Innovation und das wirtschaftliche Potenzial dieser Technologie zu verzichten, ergänzt er.
Für die Zukunft hofft Gill, dass Länder Initiativen starten, die digitale Ressourcen wie Datensätze, Algorithmen usw. bündeln, um Fortschritte bei den UNO-Zielen für nachhaltige Entwicklung («Sustainable Development Goals», SDGs) zu erzielen. Beispielsweise in den Bereichen Gesundheit, Ernährungssicherheit oder ökologischer Wandel.
Gill hofft zudem, dass es eine Verschiebung hin zu einem stärker «menschenzentrierten» Ansatz für Technologien geben wird, bei dem die Menschen «ihre Würde, ihre Handlungsfähigkeit und ihre Rechte» behalten.
«Wenn wir in der Zukunft zurückblicken und sagen können: ‹Ah, es gab eine Wende, es gab eine Erkenntnis, dass wir mehr auf den Menschen ausgerichtete digitale Technologien brauchen und darauf achten müssen, dass die menschliche Handlungsfähigkeit nicht verloren geht›, dann würde ich mich freuen.»
Editiert von Imogen Foulkes
Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch