Das lange Warten auf den UNO-Bericht über Xinjiang
Michelle Bachelet, die Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen, hat vor über einem Jahr einen Bericht über die Behandlung der uigurischen Minderheit in China versprochen. Bald scheidet die Chilenin aus dem Amt – und noch immer warten Menschenrechtsgruppen darauf.
Menschenrechtsgruppen wie Journalist:innen hatten gehofft, dass Michelle Bachelet auf ihrer letzten Pressekonferenz eine klare Antwort auf die Frage geben würde, wann ihr seit über einem Jahr erwartete Bericht über Chinas Behandlung der uigurischen Minderheit in der Provinz Xinjiang veröffentlicht wird.
Als Leiterin der Menschenrechtsabteilung der Vereinten Nationen hatte sie sich verpflichtet, den Bericht vor dem Ende ihrer vierjährigen Amtszeit am 31. August zu veröffentlichen. Doch ihre Aussage an ihrem letzten offiziellen Auftritt in dieser Funktion blieb vage. Sie werde «versuchen», den Bericht «rechtzeitig» zu veröffentlichen.
«Es wäre beschämend, wenn Michelle Bachelet die uigurischen Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die chinesischen Behörden im Stich liesse und ihr Amt verlässt, ohne ihren Bericht zu veröffentlichen», sagte John Fisher, stellvertretender Direktor von Human Rights Watch nach der Pressekonferenz, die am letzten Donnerstag in Genf stattfand. «Sie muss ihr Versprechen einhalten, die Integrität ihres Amtes wahren und zeigen, dass sie auf der Seite der Opfer und nicht der Täter steht.»
Der Bericht sorgt seit Jahren für Spannungen zwischen Menschenrechtsgruppen und der Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte. Nichtregierungsorganisationen (NGO), UNO-Sonderberichterstatter und andere unabhängige Expertengruppen haben Alarm geschlagen.
Sie haben Berichte vorgelegt, in denen Peking weit verbreitete und systematische Übergriffe gegen die muslimische Uiguren-Minderheit in Xinjiang vorgeworfen werden, darunter auch Zwangsarbeit und Misshandlungen in Gefangenenlagern. Bachelets Büro hat den Ball hin und her geschoben, einen Bericht über die Situation in Xinjiang versprochen, diesen aber nie veröffentlicht.
Kultureller Völkermord
Für Menschenrechtsorganisationen ist die Veröffentlichung wichtig. Sie wäre in ihrer Sicht ein erster Schritt, um China für das zur Rechenschaft zu ziehen, was von vielen als «kultureller Völkermord» beschrieben wurde. Obwohl der Bericht keine verbindlichen Massnahmen anordnen kann, würde er eine moralische Wirkung haben und den Weg für weitere Untersuchungen ebenen. Er könnte auch zu einer Resolution auf der nächsten Sitzung des Menschenrechtsrates führen.
«Die Herausforderung besteht darin, dass die Berichterstatter zwar wichtige Arbeit geleistet haben, diese aber nicht vom UNO-Sekretariat oder der UNO als Institution anerkannt wurde. Das ist ein Unterschied, und ich denke, ein sehr wichtiger Unterschied», sagt Sarah Brooks, Programmdirektorin beim Internationalen Dienst für Menschenrechte (ISHR), einer NGO für Menschenrechte.
Seit 2018 haben mehrere Sonderberichterstatter unabhängige Berichte über Xinjiang und Zwangsarbeit veröffentlicht. Im Jahr 2020 beispielsweise veröffentlichten rund 50 Sonderberichterstatter und unabhängige Experten eine Erklärung, in der sie China aufforderten, die Grundrechte zu schützen. Diese Aufforderung wurde 2022 wiederholt. Sonderberichterstatter werden vom Menschenrechtsrat beauftragt, aber ihre Berichte haben nicht das Gewicht eines offiziellen UNO-Berichts. Bislang gibt es in China keinen eigenen Sonderberichterstatter für China.
Umstrittener Besuch in China
Die erste Erwähnung eines offiziellen Berichts durch den Menschenrechtsrat geht drei Jahre zurück. Damals hatten Nichtregierungsorganisationen und internationale Medien bereits Beweise dafür gesammelt, dass China die uigurische Minderheit seit 2017 in Internierungslager sperrt.
Jahrelang versuchte Bachelet, Zugang zu China zu erhalten, um den Bericht zu ergänzen, aber Peking akzeptierte nie die Bedingungen, die für eine unabhängige Untersuchungsmission erforderlich wären – wozu etwa ein ungehinderter und unabhängiger Zugang gehören würde. Im September 2021 kündigte Bachelet an, dass ihr Büro kurz vor der Veröffentlichung der Bewertung der Rechtslage in Xinjiang steht.
Einen Blick auf die Amtszeit von Michelle Bachelet finden Sie hier:
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China-Besuch «unglaublich schädlich» für Bachelets Erbe
Im Dezember 2021 verkündete das Amt des Hohen Kommissars für Menschenrechte (OHCHR) erneut, dass der Bericht in der Endphase sei und in wenigen Wochen veröffentlicht werde. Doch wieder blieb das Dokument in der Schublade. Das OHCHR nannte nie einen Grund dafür. Einige Wochen später wurde bekannt, dass Bachelet nach dem Ende der Olympischen Winterspiele im Februar 2022 in Peking nach Xinjiang reisen darf.
Über die Ursache für die immer noch anhaltende Verzögerung der Veröffentlichung kann nur spekuliert werden. Einige Menschenrechtsorganisationen behaupten, Bachelet habe sich dem Druck aus China gebeugt. Andere sagen, sie habe hinter verschlossenen Türen verhandelt, um Zugang zu der Region zu erhalten. Alle sind sich einig, dass die Verwirrung und der Mangel an Kommunikation ihren Leistungsausweis beschädigt haben.
Ein Besuch in Xinjiang fand schliesslich im Mai an sechs Tagen statt. Chinesische Beamte betonten, es handele sich um einen «freundschaftlichen» Besuch, und die Hohe Kommissarin erklärte, es handele sich nicht um eine Untersuchung. Journalisten durften nicht an der Mission teilnehmen, und die Bedingungen, die für die Durchführung der Mission vereinbart worden waren, wurden nie veröffentlicht.
Bachelet bestätigte, dass sie «während ihres Besuchs nicht mit inhaftierten Uiguren oder deren Familien sprechen konnte». Sie sagte auch, dass sie während des gesamten Besuchs von Regierungsvertretern begleitet worden sei.
Wie der viel kritisierte Besuch Bachelets in China von Expert:innen bewertet wurde, lesen Sie hier:
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UNO-Kommissarin für Menschenrechte: Heikle Gratwanderung in China
Auf die Frage, warum der Bericht immer noch nicht veröffentlicht wurde, sagte Bachelet am Donnerstag, sie brauche Zeit, um neue Informationen von ihrem Besuch zu integrieren und die Beiträge aus China zum Inhalt des Berichts zu prüfen.
«Meine Interpretation der langen Vorbereitungszeit für den Bericht ist, dass es darum ging, sicherzustellen, dass jedes ‹t› gekreuzt und jedes ‹i› gepunktet wurde. Und das braucht Zeit, wenn man in einer Organisation wie dem OHCHR arbeitet», sagt Brooks. «Wenn ein Bericht gut, integer und mit einer soliden Methodik erstellt wird, ist es sehr schwer, etwas anderes als politisch motivierte Beschwerden darüber zu erhalten.»,
Krieg der Worte
Für China steht viel auf dem Spiel. Der Bericht ist für die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt zu einem Vorwand geworden, den Westen zu beschuldigen, er verleumde seine Bemühungen zur Friedensförderung und zur Bekämpfung des Terrorismus. China hat sorgfältig ein Narrativ erarbeitet, wonach seine repressiven Massnahmen in Xinjiang Frieden, Stabilität und wirtschaftliches Wachstum in der Provinz ermöglicht und Arbeits- und Ausbildungsplätze geschaffen haben.
China argumentiert, dass die Uiguren in Berufsausbildungslagern Fertigkeiten erlernen würden und nicht – wie Menschenrechtsorganisationen kritisieren – in Internierungslager gesteckt würden.
NGO haben die Zahl inhaftierter Menschen auf eine Million geschätzt, wobei die Opfer von systematischer Folter, Zwangssterilisation und Vergewaltigung berichten. Jüngsten Untersuchungen zufolge könnten seit 2017 insgesamt acht Millionen Uiguren inhaftiert worden sein.
China hat sein ganzes diplomatisches Gewicht eingesetzt, um das OHCHR dazu zu bringen, den Bericht zu begraben. Im Juli berichtete ReutersExterner Link, dass Peking unter den diplomatischen Vertretungen in Genf einen Brief in Umlauf gebracht hatte, in dem Bachelet aufgefordert wurde, den Bericht nicht zu veröffentlichen.
Am Donnerstag bestätigte sie, dass sie das Schreiben erhalten hatte, das nach ihren Angaben von etwa 40 anderen Staaten unterzeichnet worden war. Sie fügte hinzu, dass ihr Büro auf solchen Druck nicht reagieren werde.
Chinas Offensive im Internet
Angesichts des bevorstehenden Veröffentlichungstermins hat Peking die sozialen Medien mit offiziellen und inoffiziellen Berichten überschwemmt, in denen die Politik des Landes positiv dargestellt und alle Beweise für Menschenrechtsverletzungen beschönigt werden.
Zum Inhalt des Berichts sind noch viele Fragen offen. Menschenrechtsorganisationen befürchten, dass der Bericht am Ende in einer abgeschwächten Version veröffentlich werden könnte, was Peking in die Karten spielen würde.
«Es ist auch von entscheidender Bedeutung, dass der Bericht das Ausmass und die Schwere der Verstösse genau wiedergibt, die nach Ansicht von Human Rights Watch und vielen anderen das Niveau von Verbrechen gegen die Menschlichkeit erreicht haben. Von einer glaubwürdigen unabhängigen Bewertung durch die Hohe Kommissarin können wir nichts weniger erwarten», so Fischer.
Während der Pressekonferenz am Donnerstag bekräftigte Bachelet, dass sie trotz des «Drucks», unter dem sie stehe, «die Veröffentlichung nicht zurückhalten» werde. Mitte August veröffentlichte ein vom UNO-Menschenrechtsrat eingesetzter unabhängiger Experte einen Bericht, in dem es heisst, es sei «vernünftig, zum Schluss zu kommen», dass Uigur:innen und andere ethnische Minderheiten in Chinas nordwestlicher Region Xinjiang Zwangsarbeit verrichten müssen.
Das chinesische Aussenministerium reagierte umgehend und bezeichnete den Bericht als «Lügen» und «Desinformation», die «von den Vereinigten Staaten verbreitet werden».
Kommt noch etwas?
Menschenrechtsgruppen argumentieren, dass ein Bericht des Büros der UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte dazu führen könnte, dass mehr Stimmen ihre Besorgnis über Chinas angebliche Rechtsverletzungen zum Ausdruck bringen. Viele Länder waren bisher nicht bereit, Chinas Xinjiang-Politik öffentlich zu kritisieren, darunter viele Länder des Nahen Ostens.
«Xi Jinping hat wiederholt gesagt, dass er ein internationales System will, in dessen Mittelpunkt die Vereinten Nationen stehen. Chinas Betonung der Vereinten Nationen macht es für die chinesische Regierung fast unmöglich, glaubwürdige Kritik aus den Vereinten Nationen zu ignorieren. Auch aus politischer Sicht könnte ein massgeblicher Bericht der UNO vielen Ländern des Globalen Südens den politischen Raum geben, ihre Bedenken zu äussern», sagt William Nee, Koordinator für Forschung und Interessenvertretung bei Chinese Human Rights Defenders (CHRD).
Er ist sich sicher: «Was die UNO sagt, wird einen immensen Einfluss auf das Leben der Menschen in Xinjiang haben.»
Unter Mitarbeit von Akiko Uehara, Virginie Mangin
Editiert von Virginie Mangin
Übersetzt von Marc Leutenegger
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