UNO-Organisation besorgt über Wiederaufbau-Hilfe für Libanon
Die verheerende Explosion im Beiruter Hafen von Anfang August hat den Libanon in eine tiefgreifende Krise gestürzt. Daran vermögen auch die Hilfeleistungen aus dem Ausland nicht viel zu ändern. Die Zukunft des Landes sei ungewiss, sagt Tamara Alrifai, Sprecherin der UNRWA. Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten setzt grosse Hoffnungen in die Schweiz.
Dies vor dem Hintergrund, dass sich die USA nach der Weltgesundheits-Organisation (WHO) auch aus dieser UNO-Organisation zurückgezogen hatten.
swissinfo.ch: Wie hat die Explosion vom 4. August Ihre Arbeit im Libanon getroffen?
Tamara Alrifai: Beim UNRWA wurden wir nicht direkt von der Explosion getroffen. Die betroffenen Stadtteile zählen eher zu den wirtschaftlich privilegierten Gebieten, während die Armen und die Flüchtlinge an anderen Orten leben. Trotzdem wurden einige von ihnen durch die Explosion verletzt oder getötet, weil sie dort arbeiteten oder vorbeikamen.
Die Explosion im Hafen hat jedoch tiefgreifende und längerfristige Auswirkungen auf ein Land, das sich bereits in einer wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Krise befindet. Und in dieser Krise sind die Schwächsten am stärksten betroffen.
Insbesondere palästinensische Flüchtlinge haben keine Bankkonten, keine Reserven, keine Perspektiven. Sie haben im Libanon keine politische Vertretung und sind auf uns angewiesen. Aber wir sind chronisch unterfinanziert, insbesondere seit dem Rückzug der Vereinigten Staaten. Die Agentur sucht weiterhin nach einem Weg, um diese Lücke zu füllen.
Schränkt die Zerstörung des Hafens von Beirut die Bereitstellung humanitärer Hilfe durch das UNRWA ein?
Nach der Explosion hielten alle den Hafen für zerstört. Aber es hat sich herausgestellt, dass zumindest ein Teil des Hafens schnell saniert werden könnte.
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Die Schweiz sammelt für Libanon
Derzeit ist die UNRWA nicht direkt betroffen, da wir selbst keine Lebensmittel verteilen. Aber wir müssen innert Wochen die medizinischen Produkte erhalten, damit wir für unsere Gesundheitszentren benötigen. Ein Teil der Krise besteht darin, dass sich Covid-19 im Libanon stark verbreitet.
Wir sind äusserst besorgt um die Libanesen sowie um die Bewohner der palästinensischen Lager, in denen die Ausbreitung des Virus bisher erfolgreich eingedämmt werden konnte.
Aber in einer sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation ist es praktisch unmöglich, mittellose Menschen daran zu hindern, dass sie ihre Häuser verlassen, um etwas zum Leben und Essen zu finden.
Der libanesische Staat ist am Boden. Wie läuft derzeit die Koordinierung der internationalen Hilfe in Beirut?
Wie üblich koordiniert die UNO die Hilfe über das Büro der Vereinten Nationen für humanitäre Hilfe. Wir befinden uns noch in der Phase der akuten humanitären Not, da arbeiten die Vereinten Nationen mit internationalen und lokalen NGOs zusammen. Momentan scheint die Koordination der humanitären Aktion gut zu klappen.
Ich bin ein wenig besorgt darüber, dass die Nothilfe dermassen im Vordergrund steht. Denn wir müssen sehr schnell über die Lebensmittelrationen hinausblicken, die an Familien verteilt werden und uns fragen: Wie können wir mittelfristig den Opfern helfen, ihre Häuser wiederaufzubauen? Was können wir tun, damit kleine Händler, Apotheken oder Buchhandlungen ihre Tätigkeit wieder aufnehmen können? Und es stellt sich die Frage, mit wem die internationale Gemeinschaft im Bereich humanitäre Hilfe hier mittelfristig zusammenarbeiten kann.
Der libanesische Staat ist praktisch abwesend. Was heisst das für die Organisationen der UNO vor Ort?
Die Situation ist kompliziert. Die Übergangsregierung sowie die Mehrheit der Bevölkerung lehnen die alten politischen Machteliten ab. Die Vereinten Nationen dürfen gemäss Statuten aber nur mit bestehenden Regierungen verhandeln. Dabei müssen die Grundsätze der Achtung der Menschenrechte und der guten Regierungsführung erfüllt sein.
In solchen Krisen werden UNO-Gremien oft beschuldigt, mit Regierungen gemeinsame Sache zu machen.
Im Libanon befinden sich 12 Flüchtlingslager für Menschen aus Palästina. Die Lager stehen unter der Verantwortung des UNRWA. Darin leben rund 200’000 der insgesamt 500’000 Palästinenser, die von der UNRWA im Libanon registriert wurden. Die Organisation betreibt 65 Schulen, 27 Gesundheitszentren und Sozialdienste.
Die beiden grössten Lager sind Ain al-Hilweh am Rande der Stadt Saida im Südlibanon. Dort leben knapp 60’000 registrierte Palästinenserinnen und Palästinenser.
Schatila zählt knapp 11’000 Bewohnerinnen und Bewohner.
Zudem kann es unter den humanitären Organisationen zu einem Wettbewerb um die Hilfsgelder kommen. Bei UNRWA fragen wir uns, was wir tun müssen, damit wir bei der Verteilung der finanziellen Ressourcen nicht vergessen gehen.
Wir dürfen nicht vergessen: Wir haben es im Libanon mit Menschen zu tun, die seit 72 Jahren auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, um zu überleben. Unter der aktuellen, verschärften Krise eine Lösung für den Status der palästinensischen Flüchtlinge zu finden, ist noch ungewisser als sonst.
Ist die UNWRA als UNO-Agentur in die Bemühungen um Wiederaufbauhilfe integriert, die Emmanuel Macron versprochen hat?
Die Rolle, die Frankreich spielen möchte, ersetzt die bisherige humanitäre Koordination keineswegs. Paris will die Hilfen jener Staaten koordinieren, die sich am humanitären Aktionsplan der UNO beteiligen.
Wir von der UNRWA denken mittelfristig. Alle Menschen im Libanon, seien es Staatsbürger des Landes, Migranten oder syrische und palästinensische Flüchtlinge, sind angesichts der Krise des Landes in Armut geraten. Wir dürfen daher die Nicht-Libanesen bei dieser mittelfristigen Planung nicht vergessen.
Wenn sie in Wiederaufbau-Programmen nicht berücksichtigt werden, werden sie im Libanon noch stärker zu einer Belastung. Um dies zu verhindern, verhandeln wir mit anderen UNO-Organisationen und Gebern.
Was erwarten Sie von Bern?
Die Schweiz ist ein sehr grosser Geber der UNRWA. Ihre Rolle als Stabilisator zugunsten des Friedens ist ein starker Pol ihrer Aussenpolitik. Nach dem Rückzug der Vereinigten Staaten aus der UNRWA ist es daher eine Gelegenheit für andere Staaten, sich stärker zu engagieren. Das gilt insbesondere für jene, die sich für die Verteidigung des Multilateralismus stark machen. Die Schweiz passt perfekt zu diesem Profil, zumal sie eine Kandidatin für den UNO-Sicherheitsrat ist.
Das UNRWA hofft, dass die Schweiz ihre politische und finanzielle Unterstützung für eine Stabilisierungsagentur wie das UNRWA fortsetzen wird. Philippe Lazzarini, unser neuer Generalkommissar, möchte diese Hoffnung in Bern vorbringen, wenn er den Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis trifft. Dies könnte im Oktober der Fall sein.
Die Schweiz unterstütztExterner Link die UNO-Organisation mit rund 20 Millionen Franken pro Jahr. Das UNRWA ist seit der Gründung im Jahr 1949 ein strategischer Partner der Schweiz im Nahen Osten, so die offizielle Haltung der Schweiz.
Dies wurde im Frühjahr 2018 in Frage gestellt, als der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis den Nutzen der UNO-Agentur hinterfragte
2019 beschloss der Genfer Pierre Krähenbühl, sein Amt als Generalkommissar der UNRWA niederzulegen. Auslöser waren Vorwürfe des Missmanagements. Diese aber wurden weder von den Vereinten Nationen noch von offizieller Schweizer Seite bestätigt.
Mit Philippe Lazzarini übernahm am 1. April 2020 ein weiterer Schweizer die Leitung der UNRWA.
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