China-Abstimmung offenbart Machtverschiebung im Menschenrechtsrat
Den Bemühungen westlicher Länder und Nichtregierungsorganisationen zum Trotz weigerte sich der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, die Situation in Chinas Xinjiang-Provinz zu diskutieren.
Am 6. Oktober lehnte das für den Schutz der Menschenrechte zuständige UNO-Gremium in Genf einen historischen «Beschlussentwurf» ab, der eine Debatte über die Menschenrechtslage in der chinesischen Provinz Xinjiang vorsah.
In seiner 16-jährigen Geschichte hatte sich der Rat noch nie gegen ein ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrats gerichtet. Im Vorfeld der Abstimmung war deshalb die Frage in aller Munde: Kann das oberste Menschenrechtsgremium der Vereinten Nationen einer Debatte über mutmassliche Menschenrechtsverletzungen Chinas zustimmen, die nach Ansicht der Vereinten Nationen ein «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» sein könnten?
Das Ergebnis war knapp, aber ein grosser diplomatischer Erfolg für China: 19 Gegenstimmen und 17 Ja-Stimmen bei 11 Enthaltungen.
Chinas UNO-Vertretung in Genf twitterte, das Ergebnis demonstriere den «entschiedenen Widerstand der Entwicklungsländer gegen politische Manipulationen von Themen in Bezug auf Xinjiang durch einige westliche Länder». Laut den westlichen Delegationen, die den Text vorgeschlagen hatten, zeigte die Abstimmung hingegen, dass eine beträchtliche Anzahl von Regierungen bereit sei, China die Stirn zu bieten.
Der Menschenrechtsrat hat das Mandat, die Menschenrechte in der ganzen Welt zu fördern und zu schützen. Er soll gegen Verstösse vorgehen, unabhängig davon wo sie auftreten. Einige UNO-Beobachter:innen warfen deshalb die Frage auf, ob der Rat sein moralisches Ansehen verloren habe.
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Der UNO-Menschenrechtsrat kurz erklärt
Ein Schlag für die Glaubwürdigkeit des Rates
«Es ist unmöglich, darin etwas anderes zu sehen als einen Schlag gegen die Glaubwürdigkeit des Menschenrechtsrates und der Vereinten Nationen», sagt Marc Limon, Geschäftsführer der Universal Rights Group, einem Think-Tank mit Büros in Genf, New York und Bogota.
Mehrere Mitglieder der Organisation für Islamische Zusammenarbeit wie Indonesien, Katar und andere Länder des Nahen Ostens und Afrikas lehnten den Beschlussentwurf ab. Einige der grössten Demokratien der Welt wie Indien, Brasilien und Mexiko enthielten sich der Stimme.
«Sie haben ihre eigene Glaubwürdigkeit als konstruktive Akteure im Rat untergraben. Nicht nur, weil sie keine Stellung zu China bezogen, sondern weil es sich um Regierungen handelt, die traditionell den Dialog als erste Lösung für nationale Krisen oder Situationen fördern, die sie als kontrovers betrachten», sagt Raphaël Viana David, China- und Lateinamerika-Beauftragter des Internationalen Dienstes für Menschenrechte (ISHR), einer NGO mit Büros in Genf und New York.
Einen Tag nach der Abstimmung zu China beschloss der Rat, einen Sonderberichterstatter für Russland zu ernennen – eine weitere historische Entscheidung gegen ein mächtiges Mitglied des Sicherheitsrats. Dieses Ergebnis wäre laut Viana David vor ein paar Jahren noch «völlig undenkbar» gewesen.
Bis letztes Jahr, als er sich weigerte, das Mandat von Expert:innen zu verlängern, die mutmassliche Rechtsverletzungen im jemenitischen Bürgerkrieg untersuchten, hatte der Rat noch nie gegen eine Resolution gestimmt. Damals zeigten sich Menschenrechtsaktivist:innen schockiert. Ein Jahr später hat der Rat nun zwei Vorschläge abgelehnt.
Verschiebung der Machtverhältnisse
Für Limon von der Universal Rights Group war das Abstimmungsergebnis jedoch kein «tödlicher Schlag» für die Reputation des Rats. Aber er beobachtet eine Veränderung. «Es gibt eine klare Machtverschiebung im Menschenrechtsrat», sagt Limon. Laut ihm liegt die Ursache im Austritt der Vereinigten Staaten aus dem Rat unter dem ehemaligen Präsidenten Donald Trump. «Wenn es jetzt einen einzigen dominanten Akteur gibt, dann ist es China. Dicht gefolgt von den Vereinigten Staaten, doch diese haben ihren früheren Vorsprung verloren», ergänzt Limon.
In der Vergangenheit wurde das UNO-Menschenrechtssystem vom Westen mit seinen demokratischen Idealen und seinem Fokus auf Bürgerrechte und politische Rechte dominiert. Bis vor kurzem waren westliche Länder nur selten das Ziel von Resolutionen. Doch das hat sich in den letzten Jahren geändert.
2020 reagierte der Rat auf die Ermordung von George Floyd in den USA und beauftragte den Hochkommissar, einen Bericht über systemischen Rassismus und Polizeigewalt gegen Afrikaner:innen und Menschen afrikanischer Abstammung zu erstellen. 2021 wurde eine von China geleitete Resolution über die «negativen Auswirkungen der Erblasten des Kolonialismus auf die Menschenrechte» angenommen, die sich gegen die westeuropäischen Staaten, Kanada und die USA richtete, ohne diese namentlich zu nennen.
Das lässt den westlichen Ländern keine andere Wahl, als ihre Fehler einzugestehen, sagt Limon. «Entweder sie weisen Kritik gänzlich zurück, würden dann aber genau wie China oder Russland klingen. Oder sie sagen, dass sie das Problem erkannt haben und etwas dagegen tun wollen.»
Vor der Abstimmung am 6. Oktober erklärte die ständige Vertreterin der USA, Michèle Taylor, vor dem Menschenrechtsrat, dass «kein Land, egal wie mächtig es ist, von den Diskussionen im Rat ausgeschlossen werden sollte. Das gilt sowohl für mein Land, die Vereinigten Staaten, als auch für die Volksrepublik China».
Nach Ansicht von Felix Kirchmeier, Geschäftsführer der Genfer Menschenrechtsplattform, wird es durch solche Äusserungen mächtiger Regierungen «für die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates immer schwieriger, sich gegen Debatten zu wehren».
Ein Schlag für die Opfer
Für die Opfer und Menschenrechtsverteidiger:innen ist das Ergebnis der Abstimmung vom 6. Oktober schwer zu akzeptieren. Viele hatten gehofft, dass sich der Rat nach der Veröffentlichung des Xinjiang-Berichts der scheidenden UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, im August endlich mit der Situation befassen würde.
Der Bericht enthält Beweise für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen die uigurischen Muslime in Xinjiang, darunter willkürliche und diskriminierende Inhaftierungen, die nach Ansicht der UNO «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» darstellen könnten.
«Jetzt, da wir einen Bericht des UNO-Menschenrechtsbüros haben, müssen auf UN-Ebene konkrete Massnahmen gegen China ergriffen werden. Straflosigkeit ist keine Lösung für die Opfer, die Überlebenden und die betroffenen Gemeinschaften», sagt Zumretay Arkin, Programm- und Advocacy-Managerin beim World Uyghur Congress, einer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in München.
Trotz dieser Enttäuschung werden sich die Menschenrechtsgruppen weiterhin für eine Rechenschaftspflicht bei der UNO einsetzen. «Wir werden in der UNO bleiben, weil sie trotz allem immer noch ein wichtiger Ort für uns ist, um multilaterale Massnahmen zu ergreifen», sagt Arkin.
Neue Mitglieder
«Der Rat ist nur so gut wie seine Mitglieder, und seine Zusammensetzung ändert sich jedes Jahr», sagt Viana David. «Wegen zwei Stimmen zu verlieren, ist im Kontext des Rates nicht viel», fügt er hinzu.
Die Mitglieder des Rates werden für eine Amtszeit von drei Jahren gewählt. Am 11. Oktober wählte die UNO-Generalversammlung 12 neue Mitglieder. Sieben von ihnen, darunter Sudan, Bangladesch und Vietnam, sind laut einem UNO-Bericht Länder, die für Repressalien gegen Menschenrechtsverteidiger:innen bekannt sind. Venezuela, dem UNO-Expert:innen schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen hatten, wurde nicht wiedergewählt.
Bei der Wahl traten in drei der fünf geografischen Regionen genau so viele Kandidat:innen an, wie Sitze zu vergeben waren – ein so genannter «closed slate».
«Eine der wenigen Möglichkeiten, die Mitgliedschaft zu verbessern, ist ein Wahlverfahren, das wettbewerbsorientiert und transparent ist. Eine Voraussetzung dafür sind kompetitive Kandidat:innenlisten. Das hängt jedoch von der Bereitschaft der einzelnen Staaten in den Regionen ab», so Viana David.
Reformen?
Dass China im Menschenrechtsrat scheinbar unantastbar bleibt, wirft die Frage auf, ob der Rat reformiert werden sollte.
Laut Limon von der Univeral Rights Group ist dies nicht unbedingt notwendig. Aber der Rat könnte mehr Ressourcen aufwenden, um «die grosse Mehrheit der UNO-Mitgliedsstaaten zu unterstützen, welche die Menschenrechtssituation in ihrem Land verbessern wollen, denen aber die nötigen Kapazitäten fehlen». Das bedeute nicht, dass öffentliche Verurteilungen von Staaten nicht manchmal notwendig seien. Der Rat solle sich jedoch auch mehr darauf konzentrieren, Menschenrechtsverletzungen und Krisen bereits in einem frühen Stadium zu verhindern.
Ein gewisses Mass an Polarisierung sei in einem multilateralen Gremium angesichts des aktuellen geopolitischen Kontextes unvermeidlich, betont Kirchmeier. «Die Menschen vergessen, dass es letztlich die gleichen Staaten sind, die im Rat und in anderen Organisationen sitzen und Entscheidungen treffen. Es ist keine erhabene moralische Instanz. Es ist eine Gruppe von Staaten, und es ist Politik.»
Editiert von: Imogen Foulkes/vm Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger
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