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Gipfel für humanitäre Hilfe – Wendepunkt oder Alibiübung?

Dieses Spital im Norden Syriens wurde bei einem Luftangriff zerstört. Möglicherweise durch Jets der russischen Armee. Keystone

Es ist der erste UNO-Gipfel zum Thema humanitäre Hilfe. Médecins Sans Frontières – eine der wichtigsten NGO in dem Bereich – sieht die Konferenz als Feigenblatt, mit dem die Verantwortung der Staaten verdeckt werden solle. Die Schweiz wird die Regierungen vor allem an ihre Verpflichtung erinnern, die gebeutelten Genfer Konventionen zu respektieren und für deren Einhaltung zu sorgen.

Die Bombardements von Spitälern gehören im Kriegsgeschehen in Syrien fast zur Routine. Doch auch auf anderen Schlachtfeldern kommt es zu diesem eklatanten Verstoss gegen die erste der vier Genfer Konventionen. Am 3. Oktober 2015 wurde das Spital der Organisation Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF) in Kundus in Afghanistan bei einer Reihe von Luftangriffen bombardiert. Washington räumte schliesslich ein, es habe sich um einen Irrtum gehandelt, ohne aber gegen die Verantwortlichen irgendwelche Strafmassnahmen zu ergreifen.

Der Gipfel in Kürze

Nach Angaben der Vereinten Nationen haben 110 Staaten ihre Teilnahme an diesem ersten WeltgipfelExterner Link zur humanitären Hilfe bestätigt, der am 23. und 24. Mai in Istanbul stattfindet; es werden 50 Staats- oder Regierungschefs erwartet.

Auch Nichtregierungs-Organisationen (NGOs) und der Privatsektor werden in Istanbul vertreten sein; insgesamt werden 6000 Delegierte erwartet.

Nach Angaben der UNO geht es bei dem Gipfel darum, Art und Weise der humanitären Einsätze zu überdenken und zu revitalisieren, auf die aktuell weltweit 125 Millionen Menschen dringend angewiesen sind.

Unter anderem geht es darum, die Kluft zwischen den benötigten Geldern und den effektiven Spenden zu überbrücken. Im letzten Jahr hatte diese Lücke die Rekordsumme von 9,3 Milliarden Dollar erreicht.

Was Yves Lador, Berater von internationalen Organisationen in Genf, zur Aussage veranlasst: «Wenn sogar Grossmächte wie die USA oder Russland ein Grundprinzip der Genfer Konventionen nicht respektieren, wer soll sie dann respektieren?»

Wird das humanitäre Völkerrecht auf diese Art und Weise missachtet, stellt sich die Frage, ob der Weltgipfel über humanitäre HilfeExterner Link, der am 23. und 24. Mai in Istanbul stattfindet, eine deutliche Reaktion erbringen werden kann. Nein, antwortet MSF. Die Organisation kam zum Schluss, nicht an der Konferenz teilzunehmen, nachdem sie sich lange an deren Vorbereitung beteiligt hatte.

Die ErklärungExterner Link (in Englisch), mit der dieser Entscheid bekannt gegeben wurde, beginnt folgendermassen: «Im letzten Jahr wurden 75 von Médecins Sans Frontières (MSF) betriebene oder unterstützte Spitäler bombardiert. (…) Über die Spitäler hinaus werden Zivilpersonen im blindwütigen Krieg in Syrien, Jemen, im Südsudan, in Afghanistan und andernorts verletzt oder getötet. Gleichzeitig zeigt die Behandlung von Flüchtlingen und Migranten in Europa und darüber hinaus einen erschreckenden Mangel an Menschlichkeit. (…) Der Weltgipfel über humanitäre Hilfe hätte eine Chance sein können, diese wichtigen Probleme zu lösen, doch dies ist nun nicht der Fall.»

Die Gipfelteilnehmer, schreibt die Organisation weiter, würden zu einem Konsens über gute, nicht spezifische Absichten gedrängt, die «Normen aufrecht zu erhalten» und den «Bedürfnissen ein Ende zu setzen». «Der Gipfel wurde zu einem Feigenblatt guter Absichten.» Diese machten es möglich, «dass die systematischen Verstösse, vor allem durch Staaten, weiter ignoriert werden können.»

Wirklich? Zu einem grossen Teil, sagt Yves Lador: «Wie alle UNO-Gipfel dieser Art sollte die Konferenz helfen, den Weg zu ebnen, wie 1992 der Erdgipfel von Rio. Aber im Gegensatz zu Rio wird der Gipfel von Istanbul nur mit einer Erklärung und mit Verpflichtungen enden, die danach für die nächste UNO-Generalversammlung noch in Resolutionen umgewandelt werden müssen.»

Für Russland allerdings geht auch dies schon zu weit. In einem Brief, welcher der Nachrichtenagentur AFP vorliegt, beklagt sich Moskau vor allem darüber, dass die Entscheide, die in Istanbul gefällt werden sollen «langfristige Verpflichtungen enthalten», zu denen man nur noch Ja oder Nein sagen könne, ohne dass die einzelnen Mitgliedstaaten ihre Positionen oder Beobachtungen einbringen könnten. «Angesichts dieser beunruhigenden Umstände ist unsere Delegation nicht bereit, auch nur eine dieser Verpflichtungen zu unterzeichnen», heisst es in dem Brief weiter.

Schon vor dem Warnschuss von MSF und der Stellungnahme Russlands hatte der Schweizer Botschafter Manuel Bessler eingeräumt, dass die Umwandlung der Verpflichtungen von Istanbul in eine UNO-Resolution «eine riesige Herausforderung» sein werde.

Manuel Bessler, Delegierter für Humanitäre Hilfe des Bundes, unterstrich auch, dass die wichtigste Botschaft des Schweizer Aussenministers Didier Burkhalter in Istanbul sich um die in den letzten Jahren zunehmenden Verstösse gegen die Genfer Konventionen drehen werde. «Unser Delegationschef wird die Staaten an ihre Verpflichtung erinnern, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren und für dessen Einhaltung zu sorgen, das heisst, an den ersten Artikel der Genfer Konventionen.»

Der Botschafter erklärte weiter, dass der Schweizer Aussenminister in Istanbul Co-Vorsitzender des Runden Tisches sei, der sich mit diesem Thema befassen werde.

Engagement der Schweiz

Als Depositärstaat der Genfer Konventionen und Sitz des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) sowie der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung war die Schweiz in den Vorbereitungen der Konferenz voll engagiert.

Prioritäten der Schweiz

Die Schweizer Delegation unter Leitung von Aussenminister Didier BurkhalterExterner Link verfolgt bei der Konferenz in Istanbul drei Prioritäten:

–      Stärkung der politischen Führung, um Kriege zu verhindern oder zu beenden (was die Schweiz zum Beispiel tut, indem sie die Syrien-Friedensgespräche so gut wie möglich unterstützt)

–      Einsatz zum Schutz der nach einem Krieg oder einer Katastrophe innerhalb eines Landes vertriebenen Menschen (die nicht unter dem Schutz einer spezifisches Rechtsgebung stehen)

Einsatz für die Respektierung der Normen des humanitären Völkerrechts, das in den aktuellen Konflikten im Nahen Osten sowie in Afrika mit Füssen getreten wird.

So hatte sie zum Beispiel im vergangenen Jahr in Genf den Co-Vorsitz bei der letzten Vorbereitungskonferenz für den UNO-Gipfel.

Laut Manuel Bessler werden die Resultate des Gipfeltreffens nicht unmittelbar ersichtlich sein: «Klar ist, die Erwartungen sind immens. Die Hoffnung ist, dass dieses Gipfeltreffen eine Dynamik sowie ein Bewusstsein auslösen wird, um die zahlreichen Herausforderungen offenzulegen, mit denen sich die humanitäre Hilfe konfrontiert sieht.»

Dieses Bewusstsein ist wirklich nötig. 2015 kamen die Spender für weniger als 50% der fast 20 Milliarden Dollar auf, um welche die UNO für ihre humanitären Aktionen gebeten hatte. Und dies, während mehr als 125 Millionen Menschen weltweit täglich von dieser Hilfe abhängen. Rund 60 Millionen darunter sind intern Vertriebene oder Flüchtlinge, die höchste Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg.

Zudem dürften die Bedürfnisse mittelfristig noch grösser werden, nicht nur aufgrund von Kriegen, sondern auch wegen Katastrophen, die im Zusammenhang stehen mit dem Klimawandel.

Um diesen Herausforderungen die Stirn bieten zu können, müssten sich die Akteure im Bereich der humanitären Hilfe anpassen, aber auch die Mittel für ihre Einsätze erhalten können. Diese Perspektive stösst jedoch auf den Widerstand auf Seite der Staaten, wie Yves Lador erklärt: «Konfrontiert mit grenzüberschreitenden Problemen bestehen die Staaten weiterhin auf ihrer Souveränität.»

Manuel Bessler verweist seinerseits darauf, dass die Beträge, die für die humanitäre Hilfe weltweit gebraucht würden, nicht stetig weiter ansteigen könnten. «Wir müssen Wege finden, diese Zahlen zu senken, die langfristig nicht haltbar sind. Ein BerichtExterner Link der UNO zeigte bereits mögliche Wege auf. So muss zum Beispiel unterstrichen werden, dass Konflikte, die sich über lange Zeit hinwegziehen die Konsequenz eines politischen Versagens der Staaten sind, eine friedliche Lösung zu finden.»

Oder anders gesagt: Wenn die Staaten Lösungen für die Krisen finden würden, könnte die Last der humanitären Hilfe gesenkt werden.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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