«Es hilft, Schweizer zu sein», sagt der neue Chef des UN-Palästinenserhilfswerks
Philippe Lazzarini hat einen harten Job. Mitten in der Coronavirus-Pandemie übernahm er das Amt des Leiters der UNRWA, des umstrittenen palästinensischen Flüchtlingshilfswerks der UNO. Er glaubt nicht, dass er ernannt wurde, weil er Schweizer ist. Aber es helfe, sagt er swissinfo.ch.
«Im Nahen Osten ist die Schweiz eine der Nationalitäten, die immer noch als politisch unvoreingenommen wahrgenommen wird», sagt Lazzarini. «Es gibt immer noch die Vorstellung eines Landes, das seit langem den Begriff der Neutralität trägt. Das ist aber sicher nicht der Grund für meine Ernennung. Aber es hilft, in einer Region wie dieser, Schweizer zu sein.»
In der Tat scheint der Nahost-Konflikt unlösbar und er ist äusserst heikel, ebenso wie das Mandat des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA).
Die UNRWA wurde 1949 durch eine UNO-Resolution gegründet und hat die Aufgabe, sich um die palästinensischen Flüchtlinge zu kümmern, die nach dem arabisch-israelischen Krieg 1948 aus ihrem Zuhause vertrieben wurden. Ihr Recht auf den Flüchtlingsstatus basiert auf dem Recht, in ihre Heimat zurückzukehren, aber dies war ein anhaltender Knackpunkt in den Friedensverhandlungen. Und von ursprünglich 700’000 Vertriebenen ist die Zahl im Laufe der Generationen auf 5,6 Millionen angewachsen, die heute in Lagern in Jordanien, Libanon und Syrien sowie im Gazastreifen und im Westjordanland, einschliesslich Ostjerusalem, leben.
Die UNRWA, die weitgehend auf Spenden der UNO-Mitgliedsstaaten angewiesen ist, bietet den Flüchtlingen Bildungs-, Gesundheits- und Sozialdienste an. Derzeit befindet sich die Organisation jedoch in einer schweren finanziellen Krise, insbesondere seit die Trump-Administration 2018 die Mittel gekürzt hat.
Der ehemalige Chef Pierre Krähenbühl, ebenfalls Schweizer, trat im vergangenen Jahr unter dem Vorwurf der Misswirtschaft zurück; er sagte, er sei Opfer einer «schmutzigen Politik», insbesondere durch die USA und ihren Verbündeten Israel. Selbst der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis sagte 2018 in einem Zeitungsinterview: «Für mich lautet die Frage: Ist die UNRWA Teil der Lösung oder Teil des Problems?»
Eine neue Normalität
Und nun gibt es auch noch Covid-19. Lazzarinis erste Monate in diesem Job waren nicht einfach. Aus Beirut kommend, wo er zuvor UNO-Koordinator für humanitäre Hilfe für den Libanon war, dauerte es seinen Angaben zufolge drei Wochen, um eine Genehmigung für die Reise nach Ost-Jerusalem über Syrien, Jordanien und das Westjordanland auszuhandeln. Bei seiner Ankunft wurde er für zwei Wochen unter Quarantäne gestellt. Eine erste Einführung in die Organisation erfolgte online.
«Ich denke, das ist für uns alle eine neue Normalität. Aber es war ein bisschen seltsam, auf diese Weise zu beginnen», erzählt er swissinfo.ch.
Die Bekämpfung der Ausbreitung des Coronavirus in den überfüllten palästinensischen Lagern voller gefährdeter Menschen sei im Moment eine Priorität, sagt er. «Wir waren äusserst besorgt, dass sich das Coronavirus sehr schnell ausbreiten würde, wenn Covid-19 den Gazastreifen oder die Lager treffen würde.»
Aber mit bisher nur etwa 160 registrierten FällenExterner Link in den fünf Einsatzgebieten sei er stolz darauf, wie die UNRWA reagiert habe. «Vom ersten Tag an» habe die Organisation ihre Gesundheitsdienste auf Telemedizin und die Ausbildung auf E-Learning verlagert, erzählt er. Die Nahrungsmittellieferungen erfolgten statt in den Verteilungszentren durch Hauslieferungen, um Situationen zu vermeiden, in denen sich Menschen in grosser Zahl versammeln.
«Ich denke, dass wir durch eine massive Präventionskampagne, aber auch durch die Art und Weise, wie wir unseren Modus operandi angepasst haben, die Ausbreitung von Covid-19 bisher verhindert haben», sagt Lazzarini.
Vertrauen wiederherstellen
Nebst Covid-19 und seinen potenziellen sozioökonomischen Auswirkungen auf die Flüchtlinge haben laut Lazzarini die Bewältigung der Finanzierungskrise der UNRWA und die Wiederherstellung des Vertrauens in die Organisation oberste Priorität. «Ich muss dafür sorgen, dass sich die Organisation an ihr Umfeld anpasst und dass wir die Lehren aus der Krise ziehen, welche die Organisation im vergangenen Jahr getroffen hat», sagt er. «Um das Vertrauen wiederherzustellen, muss eine Reihe von Managementinitiativen umgesetzt werden.»
Diese Initiativen zielten darauf ab, die Rechenschaftspflicht der UNRWA zu stärken, ihre Beziehungen zur beratenden Kommission zu vertiefen und die finanzielle Transparenz wiederherzustellen, erklärt er gegenüber swissinfo.ch. «Aber darüber hinaus müssen wir auch die Organisation anpassen, um eine Kultur zu schaffen, in der sich alle empowered fühlen. Das ist der Weg, um das Vertrauen innerhalb der Organisation und auch zu einer Reihe von Partnern wiederherzustellen.»
Laut Lazzarini sind eine Reihe dieser Initiativen bereits in der Pipeline und werden mit Vertretern der Mitgliedsstaaten in der beratenden Kommission diskutiert. Er rechnet damit, dass die Umsetzung 12 bis 18 Monate dauern wird.
Von der Politik fernhalten
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«Es besteht kein Zweifel, dass sie Teil der Lösung ist, und ich sehe keine Alternative zur UNRWA und zu Investitionen in das, was zu Frieden und Sicherheit hier in der Region beiträgt», sagt er gegenüber swissinfo.ch. «Es wäre schade, alle Investitionen aufzugeben, die in die menschliche Entwicklung getätigt wurden. »
Er räumt jedoch ein, dass die Relevanz und Legitimität der Organisation regelmässig in Frage gestellt wird. Eine weitere Priorität werde es sein, etwas dagegen zu unternehmen, sagt er. «Mein Ziel und meine Priorität hier ist es, dafür zu sorgen, dass wir die Organisation von politischen Erwägungen abschirmen, dass die Geldgeber und die Mitgliedsstaaten stolz auf ihre Investition in die Organisation sind. Es ist wichtig, dass wir uns auf unser Mandat konzentrieren, auf die Erbringung von Dienstleistungen, auf die Förderung der Rechte der palästinensischen Flüchtlinge bis zu dem Tag, an dem es eine gerechte und dauerhafte politische Lösung in der Region gibt.»
Die UNRWA von der Politik abzuschirmen, könnte in einer politisch so sensiblen Region jedoch eine schwierige Aufgabe sein. Israel versucht, die Legitimität der UNRWA zu untergraben und bemüht sich derzeit um die Annexion eines Teils des Westjordanlandes im Rahmen eines umstrittenen «Friedensplans» der USA, der von Präsident Trumps Schwiegersohn Jared Kushner ausgearbeitet wurde. Dies würde bedeuten, dass es noch weniger palästinensisches Land gäbe, auf das palästinensische Flüchtlinge zurückkehren könnten, sollte dies überhaupt jemals möglich sein.
Lazzarini will sich nicht zum politischen Prozess äussern. Nur so viel: Er verfolge täglich, «ob eine dieser Entwicklungen die Fähigkeit der UNRWA beeinträchtigt, ihr Mandat zu erfüllen, um den palästinensischen Flüchtlingen einen angemessenen Zugang zu Dienstleistungen zu gewährleisten». Er stehe auch mit der israelischen Regierung in Kontakt.
Schweizer Beziehungen
Die Schweiz war eines von mehreren Ländern, die zur Schliessung der Finanzierungslücke der UNRWA beitrugen, nachdem die USA ihre Beiträge 2018 gestoppt hatten. Aber auch sie setzte im vergangenen Jahr die Zahlungen wegen der Misswirtschaftsvorwürfe bis Dezember vorübergehend aus. Und es ist unwahrscheinlich, dass die Kommentare von Cassis in Vergessenheit geraten.
Nach seinen Beziehungen zu den Schweizer Behörden befragt, zeigt sich Lazzarini (der schweizerisch-italienischer Doppelbürger ist) optimistisch. Er sagt, er habe bereits Kontakt von Jerusalem aus aufgenommen und es habe einen Briefwechsel gegeben.
«Die Schweizer Regierung war ein starker Fürsprecher für die UNRWA und ein kritischer Partner der Organisation. Ich erwarte, dass die Schweiz auch weiterhin ein wichtiger Partner sein wird. Sobald ich die Reisegenehmigung habe, werde ich auch in die Schweiz kommen. Ich möchte einen persönlicheren Dialog mit den Behörden führen.»
Sobald die Covid-19-Beschränkungen aufgehoben sind, will Lazzarini auch die Flüchtlingslager besuchen. «Ich möchte jeden Monat ein Lager in jedem unserer Einsatzgebiete besuchen», sagt er gegenüber swissinfo.ch. In den überfüllten Lagern bleiben die Restriktionen vorerst bestehen.
Per Videokonferenz hat der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis an der ministeriellen Tagung des Ad-hoc Liaison Committee teilgenommen. Dieses koordiniert die Hilfsgelder für die palästinensische Autonomiebehörde.
Wegen der Coronavirus-Krise verstärkt die Schweiz ihre humanitäre Unterstützung sowie die Entwicklungshilfe. Cassis rief Israel und die palästinensische Autonomiebehörde dazu auf, die Zusammenarbeit im Kampf gegen COVID-19 weiterzuführen.
Die Schweiz kritisiert die mögliche Teilannexion des Westjordanlands durch Israel. Diese verstosse gegen das Internationale Völkerrecht und erschwere die Rückkehr an den Verhandlungstisch. Die Schweiz werde weiterhin ihre guten Dienste für Gespräche anbieten, so Cassis.
Quelle: EDAExterner Link
(Übertragung aus dem Englischen: Sibilla Bondolfi)
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