Neue Chefin – neue Chance?
Wächst mit der neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Chance, dass Bern und Brüssel endlich das Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU besiegeln? Beobachter sind skeptisch.
Nach einigen Verzögerungen steht nun von der Leyens Personal für ihre Kommission: Am 1. Dezember kann die Deutsche damit aller Voraussicht nach ihr Amt antreten. In der Schweiz fragt man sich, in welche Richtung sich offene Konfliktfelder unter der Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker bewegen werden.
Viel war über die 61-Jährige seit ihrer Wahl durch das EU-Parlament am 17. Juli 2019 zu lesen. Handfestes zum Thema Schweiz befand sich nicht darunter. Der kleine Nachbar hatte in von der Leyens bisheriger politischer Karriere als Familien-, Arbeits- und Verteidigungsministerin in Berlin kaum eine Rolle gespielt.
Nun muss sie sich in Brüssel neben dem Schweiz-Dossier in viele neue Themenfelder einarbeiten. Am Ende ist kaum zu erwarten, dass sich die neue Kommissionspräsidentin gross von der Linie des Luxemburgers Jean-Claude Juncker absetzen wird – zumal sie sich in eine eingespielte Beamten-Maschinerie einfügen muss.
Was Juncker nicht schaffte
Der scheidende Kommissionspräsident Juncker hatte in seiner Abschiedsrede als eine der grossen Enttäuschungen seiner Amtszeit bezeichnet, dass er das Rahmenabkommen mit der Schweiz nicht unter Dach und Fach bringen konnte. Bis zuletzt hatte er gehofft, dass Bern in den drei offenen Fragen – Lohnschutz, Rechte von EU-Bürgern in der Schweiz und Zulässigkeit von Subventionen – einlenken würde. Die EU, so machte Juncker deutlich, sei zur Unterschrift, jedoch zu keinem weiteren Entgegenkommen bereit. Der Ball liege nun in Bern.
Nicht viel Spielraum
Ob sich von der Leyen nun auf die Schweiz zubewegen wird, muss sich weisen, wahrscheinlich ist es nicht. Er sehe nicht, wie die Kommissionspräsidentin ohne Zustimmung der Mitgliedstaaten einen anderen Kurs als ihr Vorgänger fahren könne, zeigt sich ein Insider der Verhandlungen skeptisch.
Mehr Spielraum, als atmosphärisch ein gutes Wort für die Schweiz einzulegen, habe von der Leyen vermutlich nicht.
Auch Bundespräsident Ueli Maurer konnte jüngst auf einem Treffen der Finanzminister der EU und der Efta-Staaten in Brüssel kaum Neues in Erfahrung bringen – zumal von der Leyen ja noch nicht im Amt ist. «Wie es um das Rahmenabkommen steht? Gute Frage», entgegnete er auf eine Frage der Journalisten und verschwand.
Im SRF-Interview zum 1. August sagte er bereits: «Die Verhandlungen werden nicht einfacher. Persönlich wird es aber vielleicht ein bisschen lockerer.»
Von der Leyen sagte für die Zeit nach ihrem Amtsantritt immerhin ein Treffen mit der Schweiz zu und betonte, das Schweiz-Dossier sei weiterhin sehr wichtig. Das föderale System der Schweiz nannte sie schon früher als Vorbild für mögliche «Vereinigte Staaten von Europa».
Doch höher auf ihrer Agenda stehen vermutlich die in ihrer Bewerbungsrede als dringlich benannten Themen Klimaschutz und europäischer Mindestlohn. Von der Leyen wird alles daran setzen, die europäische Integration voranzutreiben, enormes Entgegenkommen gegenüber Nicht-EU-Mitgliedern und deren Sonderwünschen ist nicht zu erwarten.
Wechsel zur richtigen Zeit
Für die neue Kommissionspräsidentin kam der Wechsel von Berlin nach Brüssel gerade zur rechten Zeit. Ihr Stern sank in der deutschen Bundespolitik bereits seit einiger Zeit, nicht zuletzt, nachdem sie als Verteidigungsministerin mit einigen Skandalen um nicht eine einsatzbereite Ausrüstung der Bundeswehr, explodierende Kosten bei der Sanierung des Segelschulschiffs Gorch Fock und millionenschwere Beraterverträge zu kämpfen hatte.
Als Angela Merkel sie im Frühjahr überraschend als potentielle Kommissionspräsidentin ins Spiel brachte, wurde die Niedersächsin in der Hauptstadt schon lange nicht mehr als Kanzlernachfolgerin gehandelt.
Im Berliner Politikbetrieb hatte von der Leyen mit ihrer Fähigkeit, Erfolge als Ministerin gekonnt auf Kosten der Kollegen zu verkaufen nicht nur Freunde gemacht. Unbestreitbar steht die promovierte Ärztin für ein modernes Gesellschafts- und Familienbild und hat mit hohem Einsatz für die bessere Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf gekämpft. Unter anderem setzte sie den Ausbau von Kita-Plätzen und das Elterngeld durch und stimmte mit nur einer Minderheit innerhalb der CDU im Bundestag für die Einführung der Homo-Ehe und damit die vollständigen Gleichstellung homosexueller Paare.
Voller Eifer in den Traumjob
In Brüssel, das kann man von der Leyen abnehmen, wartet ein Traumjob und die Krönung ihrer Karriere auf die als intelligent, diszipliniert und zugewandt beschriebene Politikerin. Die EU ist ihr eine Herzensangelegenheit, für die sie mit Nachdruck und zuweilen auch mit Pathos eintritt.
Die nur 1,61 grosse von der Leyen spricht perfekt Französisch und Englisch und strahlt anders als der lebenslustige Jean-Claude Juncker eine eiserne Disziplin aus. Ihre Energie scheint schier unerschöpflich. Auch wenn ihre sieben Kinder mittlerweile erwachsen sind, gilt weiter: Nur keine Zeit verschwenden.
In Brüssel wird sie wie bereits in Berlin direkt neben ihrem Büro übernachten: in einem 25 Quadratmeter grossen Zimmer im 13. Stock ihres Brüsseler Amtssitzes Berlaymont. Die Wochenenden gehören ihrer Familie in Niedersachsen. Sie brauche keine Wohnung in Brüssel, liess sie mitteilen. Schliesslich sei sie ja zum Arbeiten dort.
Ursula von der Leyen wurde 1958 in Brüssel geboren und wuchs in einem Politikerhaushalt auf. Bis 1971 ging sie in Brüssel auf die Europaschule und spricht neben Deutsch perfekt Französisch und Englisch. Von der Leyen ist seit 1990 Mitglied der CDU. Im Kabinett von Angela Merkel leitete sie gleich drei Ressorts: das Bundesfamilienministerium, das Bundesministerin für Arbeit und Soziales und als erste Frau das Bundesverteidigungsministerium.
Die promovierte Ärztin hat mit ihrem Mann, ebenfalls Mediziner, sieben Kinder, geboren zwischen 1987 und 1999. Das Paar lebte am Beginn seiner Ehe von 1992 bis 1996 mit seinen damals drei Kindern in Kalifornien. Von dort brachte von der Leyen ein progressives Geschlechterbild zurück nach Deutschland, das ihre Politik seither stark prägt: «Zum ersten Mal schlug mir nicht diese Wie-wollen-Sie-das-denn-schaffen-Grundhaltung entgegen, sondern mein Muttersein wurde positiv gesehen: drei Kinder? Toll! Sie müssen ja vielfältig belastbar und organisationsfähig sein», sagte sie in einem Interview.
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