«Venezuela steht auf tönernen Füssen»
Der Tod von Venezuelas Präsident Hugo Chávez erhält am Donnerstag viel Platz in der Schweizer Presse. Für alle Kommentatoren scheint klar: Der Comandante hinterlässt seinen Nachfolgern ein schwieriges Erbe.
«Der Volkstribun ist tot», titelt die Basler Zeitung und fragt: «War er ein Visionär oder ein Verrückter? War er der legitime Nachfolger des lateinamerikanischen Freiheitshelden Simon Bolivar oder ein Scharlatan?»
Ob Hugo Chávez als grosser Politiker oder als Grossmaul in die Geschichte eingehen werde, darüber werde man sich wohl noch lange streiten. «Einig hingegen sind sich alle, dass mit Chávez ein politisches Sondertalent von der Weltbühne abgetreten ist, dessen skurrile Auftritte und Eskapaden man gebannt verfolgt hatte.»
Chávez sei wie ein Unfall gewesen: «Man musste hinschauen, ob man wollte oder nicht.» Doch hinter dem «clownesken Volkstribun» habe sich ein «Machtmensch aussergewöhnlichen Kalibers» verborgen. «Die absolute Kontrolle über sein eigenes Land reichte ihm nicht; er wollte Lateinamerika vereinen und die globalen Verhältnisse umkrempeln.»
Er wollte den Kapitalismus der USA bekämpfen und strebte stattdessen eine multipolare Ordnung an. «Zu diesem Zweck fraternisierte er mit jedem, der wie er die USA hasste, vom Terroristen ‹Carlos dem Schakal› bis zum iranischen Apokalyptiker Ahmadinejad. Der Comandante hinterlässt ein tief gespaltenes, hochkorruptes, infrastrukturell verwahrlostes Land.»
Mehr
In der Hölle von Caracas
Hätte Gabriel Garcia Marquez das Leben von Chávez als Roman geschrieben, wäre er wohl «in die Literaturgeschichte eingegangen», so die BaZ. «Der reale Chávez wird knapp als historische Fussnote eines weiteren skurrilen kleinen Despoten überleben.»
Auch Der Bund ist der Meinung, Chávez habe mit seinem Autoritarismus «die Demokratie geschwächt». «Chávez hinterlässt ein Land mit weniger Armut und besserer Gesundheitsversorgung, aber auch mit einer der weltweit höchsten Inflations- und Mordraten.»
Zwar habe der Comandante mit seinem sozialen Engagement bei den Armen grosse Verehrung ausgelöst, «die schon vor seinem Tod in religiösen Mystizismus umschlug». Doch der Kommentator kommt zum Schluss: «Angesichts des Reichtums, über den Chávez verfügte, hätte er es besser machen können. Viel besser.»
Ein Vakuum
Ganz Lateinamerika stehe nach dem Tod von Hugo Chávez vor einem «kontinentalen Vakuum», glaubt die Tribune de Genève, «so gross war sein Einfluss auf die Region». Der venezolanische Präsident sei zu einem Pfeiler der rosa-roten Welle geworden, «die Lateinamerika am Anfang des 21. Jahrhunderts überrollt hat».
Der Tod des Comandante könnte mehrere Länder hart treffen, meint die Tribune und nennt namentlich Kuba und Nicaragua, die stark auf venezolanische Hilfe angewiesen sind. Und auch in Kolumbien, wo Chávez «einer der Hauptinitiatoren» des Friedensprozesses zwischen Regierung und FARC-Rebellen gewesen sei, habe die Nachricht für grosse Unruhe gesorgt.
«Die chavistische Revloution hat noch nicht ihr letztes Wort gesprochen», titelt die Westschweizer Zeitung Le Temps. Sollte sie eines Tages untergehen, so würde dies wohl «unter dem Gewicht ihrer eigenen Unförmigkeit» geschehen, beispielsweise wegen der «extremen Verwirrung bei der Gewaltentrennung, der erstickenden Korruption in der Bürokratie, der Erschlaffung des privaten Sektors».
Die Schweizer Regierung hat «mit Bedauern» vom Tode des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez Kenntnis genommen. Bundespräsident Ueli Maurer sprach der Regierung und dem Volk des südamerikanischen Landes sein Beileid aus.
Maurer werde ein Kondolenzschreiben nach Venezuela schicken, gab das eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) am Mittwoch auf Anfrage bekannt.
Die Schweizer Flagge auf dem Bundeshaus West in Bern wurde auf Halbmast gesetzt, wie es traditionell beim Hinschied eines amtierenden Staatschefs getan wird.
Ausserdem wolle Aussenminister Didier Burkhalter der venezolanischen Botschaft am Freitag einen Besuch abstatten. Dort werde er sich in das Kondolenzbuch eintragen, hiess es weiter.
Die Beziehungen zwischen der Schweiz und Venezuela sind «gut, aber wenig intensiv», wie es auf der EDA-Website heisst. Die beiden Länder haben verschiedene Verträge abgeschlossen, unter anderem einen Rahmenvertrag zu Wirtschaftsfragen im Jahr 2008. Das Abkommen bildet die Grundlage für die Beteiligung von Schweizer Firmen an Projekten in Venezuela.
(Quelle: SDA)
Wie weiter?
Venezuela schaue nun in eine unsichere Zukunft. «Der tote Revolutionär fordert seine Erben», schreibt das St. Galler Tagblatt. «Chávez ist gescheitert –nicht nur an einer tödlichen Krankheit. Sein Sozialismus war einzig auf der rücksichtslosen Konsumation des Ölreichtums gebaut. Die produktive Wirtschaft liegt am Boden, die Staatsfinanzen sind zerrüttet, die Inflation galoppiert.»
Man müsse aber auch eingestehen, dass es den Armen im Lande heute besser gehe, als vor Chávez. «Wem nur Häme einfällt, die Wohltaten seien ohne Nachhaltigkeit aus der Staatskasse berappt worden, der muss auch die Frage stellen: Wohin ist der Ölreichtum Venezuelas in der Ära kleptokratischer und korrupter Regierungen vor Chávez geflossen?»
Auch die Südostschweiz ist der Meinung, «Volkstribun Chávez hinterlässt ein schwieriges Erbe». Chávez lasse ein Land zurück, «das nicht auf die Zeit nach ihm vorbereitet ist». Er war ein Machtmensch, der seine Krankheit nicht wahrhaben wollte, doch «gegen den Krebs, der sich heimtückisch in seine Hüfte frass, war auch er machtlos».
Von der Wirtschaft habe Chávez «merkwürdige Vorstellungen» gehabt. Das Land habe «nur dank seines Ölreichtums und der hohen Erdölpreise der letzten Jahre» überlebt. «Verstaatlichungen und Devisenkontrollen verschreckten Investoren und trieben Unternehmen in den Ruin, Preiskontrollen führten zu Versorgungsengpässen, Korruption und Schattenwirtschaft florierten.»
Wer auch immer die Nachfolge des «Ausnahmetalents» Hugo Chávez antrete, werde einen schwierigen Stand haben, ist die Aargauer Zeitung überzeugt: «Charisma ist nicht übertragbar», titelt sie.
Wenn Venezuela aus der Trauer erwache, «werden sich Chávez’ blasse Nachfolger einer kruden Realität gegenübersehen. Die anstehenden Neuwahlen gewinnen sie dank des Trauerbonus vielleicht noch. Doch dann stehen sie am Scheideweg: Entweder sie verwandeln das Land in ein zweites Kuba – oder sie mutieren zu einer sozialdemokratischen Bewegung à la Brasil».
«Im Meer gepflügt»
Die Neue Zürcher Zeitung druckt einen Kommentar des kolumbianischen Schriftstellers Héctor Abad ab. Sein Fazit: «Hugo Chávez versprach Gerechtigkeit, goss über den Armen das Füllhorn aus und hinterlässt einen Scherbenhaufen.»
«Was steht Venezuela jetzt bevor?», fragt Abad. «Der Tod eines amtierenden Präsidenten ist für jedes Land eine traumatische Erfahrung. Umso mehr, wenn der Präsident ein Führer war, der fast die gesamte Macht auf sich vereinigte, was es auch umso schwieriger erscheinen lässt, die Folgen seines Todes abzuschätzen.»
Der Schriftsteller wagt dennoch eine Prognose für die Zukunft Venezuelas: «Höchstwahrscheinlich werden wir in den nächsten fünf Jahren miterleben, wie etwas, das nicht auf festem Beton, sondern auf Sand errichtet worden ist, in sich zusammenbricht – oder, wie Simón Bolívar gesagt hat: ‹Im Meer gepflügt und in den Wind gebaut.›.»
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch