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Ventilklausel: Die EU oder die Stimmbürger verärgern?

Federführend bei der Zuwanderung: Justizministerin Simonetta Somaruga. Keystone

Die Schweizer Regierung entscheidet bald darüber, ob sie die Zuwanderung von Arbeitskräften aus den EU-Ländern beschränken will. Der Beschluss über die so genannte Ventilklausel stellt den Bundesrat vor ein Dilemma: Denn entweder wird er die Stimmbürger oder die EU verärgern.

Rechtlich ist die Lage klar: Wenn die Zuwanderung von Arbeitskräften aus den Ländern der EU ein bestimmtes Mass erreicht ,was Ende April der Fall sein wird, kann der Bundesrat die so genannte Ventilklausel anrufen und damit die Einwanderung kontingentieren. So steht es in den bilateralen Verträgen mit der EU.

Politisch hingegen ist die Lage komplex und delikat. Verzichtet die Regierung auf die Ventilklausel, steht sie bei einem grossen Teil der Bevölkerung als Zauder-Gremium da, das am Gängelband der EU hängt und den vorauseilenden Gehorsam pflegt, statt die Sorgen seiner Bürger ernst zu nehmen.

Entscheidet sich der Bundesrat für eine Zuwanderungs-Beschränkung, dann verärgert er die EU ausgerechnet in einer Phase, in der die Beziehungen zwischen den beiden Partnern durch ungelöste institutionelle Fragen belastet sind. Schon vor einem Jahr, als die Schweiz die Ventilklausel für die acht Länder der EU-Osterweiterung anrief, löste das in den betroffenen Ländern geharnischte Reaktionen aus. Die EU tadelte das in ihren Augen missachtete Diskriminierungs-Verbot.

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Ungebremste Zuwanderung aus dem Osten

Im Inland riskiert der Bundesrat, als Störefried des Wirtschafts-Wachstums dazustehen. Gleichzeitig kann das Anrufen der Ventilklausel als Signal dafür gedeutet werden, dass er die Einwanderung als Problem erachtet.

Nüchtern betrachtet wird sich der Anteil der in der Schweiz lebenden Ausländerinnen und Ausländern mit oder ohne Ventilklausel höchstens marginal verändern. Das ergibt sich aus den Vorgaben zur Berechnung der Kontingente.

Die Kontingente können zudem mit dem Ausweichen auf kurzfristige Aufenthaltsbewilligungen umgangen werden. Das haben die Erfahrungen mit den EU-Ost-Ländern klar gezeigt: Die Einwanderungszahlen aus diesen Ländern veränderten sich seit Einführung der Klausel unter dem Strich kaum. Länger als bis Mai 2014 bliebe die Ventilklausel eh nicht in Kraft, denn anschliessend ist Schluss mit den Übergangsbestimmungen der Personenfreizügigkeit.

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Drohende Volksabstimmungen

Man verkaufe «der Bevölkerung ein Valium», kritisieren die Sozialdemokraten, der Baumeisterverband bezeichnet die Ventilklausel als «Placebo».

Wieso die Aufregung um ein Scheinmittel? Der Grund heisst «Masseneinwanderungs-Initiative». Urheber ist die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei, SVP. Das Volk wird darüber im Juni 2014 – also kurz nach Auslaufen der Ventilklausel – abstimmen. Ein Jahr später kommt die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf den EU-Neuling Kroatien vor das Volk.

Bei beiden Abstimmungen steht die Zukunft der bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU auf dem Spiel. Die Initiative verlangt Kontingente und eine massiv strengere Regelung der Zuwanderung. Die Personenfreizügigkeit müsste aufgegeben oder zumindest mit der EU neu verhandelt werden. Ein Nein zu Kroatien würde diese ebenfalls fundamental in Frage stellen.

Weite Teile Europas stecken in der Krise, die prosperierende Schweiz liegt mittendrin und ist auch deshalb ein Migrations-Land.

Im Januar 2013 hat die Zahl der neu zugezogenen Arbeitskräfte aus den EU-17-Staaten im Vergleich mit dem Januar 2012 um fast 33% zugenommen.

Bezogen auf die EU-8-Staaten (Osteuropa) betrug die Zunahme fast 50%.

5500 Einwanderer aus EU-17-Ländern erhielten im Januar eine Bewilligung als Daueraufenthalter. Das ist der zweithöchste Monatswert seit Anfang 2009.

Die grössten Einwanderer-Gruppen kamen aus Deutschland, gefolgt von Italien, Portugal, Frankreich und Spanien.

Insgesamt sind zwischen Februar 2012 und Januar 2013 aus der EU-17 mehr als 79’000 und aus der EU-8 13’500 Arbeitnehmer eingewandert.

Wenn sich der Einwanderungstrend bis Ende April bestätigt, sind die Voraussetzungen dafür gegeben, dass die Schweiz die Ventilklausel für alle EU-Länder anrufen kann.

Die Ventilklausel könnte auch für die Kurzaufenthalter (Bewilligung L) angerufen werden, wenn die Zahl der Gesuche zwischen 1. Mai 2012 bis Ende April 2013 auf mehr als 15’200 steigt.

Steilpass für die SVP?

Einen solchen Schiffbruch der Beziehungen mit der EU wollen der Bundesrat, die bürgerliche Parlamentsmehrheit, die Sozialdemokraten, die Grünen, Wirtschafts-Verbände und Gewerkschaften – also breiteste Kreise – verhindern.

Wie das zu geschehen habe, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Ventilklausel werde die mit dem freien Personenverkehr verbundenen Probleme nicht lösen, argumentieren etwa die Sozialdemokraten. Zudem würde die Ventilklausel ausgerechnet ein paar Wochen vor der Abstimmung auslaufen, ein potentielles ordnungspolitisches Vakuum und damit ein Steilpass für die Befürworter der SVP-Initiative.

Der Entscheid, den der Bundesrat zu fällen habe, sei delikat, räumt der Politikwissenschaftler und Geograph Michael Hermann ein, aber «er muss zeigen, dass er alles erdenkliche versucht, um die Personenfreizügigkeit abzufedern. Er muss ernsthaft zeigen, dass er auch in Zukunft versuchen will, Druck gegenüber der EU aufzubauen, so, dass es allenfalls Sonderlösungen gibt für die Schweiz.»

Der Präsident der FDP-International, François Baur, spricht sich gegen die Anrufung der Ventilklausel aus.

In einem Interview mit Radio SRF sagte der in Belgien lebende Schweizer, dass durch die Begrenzung der Zuwanderung das Verhältnis der EU zur Schweiz «nachhaltig getrübt werden könnte».

Davon betroffen wären auch die 430’000 Schweizerinnen und Schweizer, die in der EU arbeiten, studieren und wohnen.

Baur befürchtet etwa administrative Hürden und Einschränkungen bei der Mobilität der EU-Schweizer.

Fachkräftemangel

Der Bundesrat wird demnächst einen Entscheid fällen. Dabei muss er sich mit verschiedenen Varianten befassen: Er kann die bestehende Ventilklausel gegenüber den EU-Oststaaten um maximal ein Jahr verlängern  oder aber die Klausel auf alle 25 EU-Länder ausdehnen.

Die politischen Parteien und Interessengruppen haben ihre Positionen bezogen. Die bürgerlichen Parteien verlangen eine Ausdehnung auf die EU 25. Einhellig gegen die Ventilklausel sind die linken Parteien und die Gewerkschaften, aber auch die Landwirtschafts- und Gewerbeverbände, die Hotellerie und der Wirtschaftsdachverband.

Unternehmen müssten genauso wie «Randregionen und die Landwirtschaft in einem nach wie vor schwierigen wirtschaftlichen Umfeld und bei anhaltendem Fachkräftemangel mit Rekrutierungsschwierigkeiten rechnen», schreibt economiesuisse und warnt vor «einer starken Belastung der bilateralen Beziehungen zur EU».

Konfliktlinien auf dem Tisch

«Grundsätzlich finde ich es positiv, wenn es eine Debatte zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Elite gibt», sagt Michael Hermann zu den unterschiedlichen Haltungen der Wirtschaft und wirtschaftsfreundlichen Parteien. «Wenn nicht mal mehr die Wirtschaft hinter der Personenfreizügigkeit stünde, dann wäre das ein Signal, dass sie selbst aus wirtschaftlicher Sicht kein gutes Projekt ist.»

Es sei mit Blick auf kommende Abstimmungen wichtig, «dass die Konfliktlinien auf den Tisch kommen und die Bevölkerung sieht, dass da ernsthaft gerungen wird und man sich nicht einfach über die Bedenken foutiert».

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