Nach dem Nationalrat hat sich auch der Ständerat für eine finanzielle Entschädigung ehemaliger Verdingkinder ausgesprochen. Vorgesehen ist eine Summe von 300 Millionen Franken. Nach diesem Parlamentsentscheid signalisierten die Initianten der Wiedergutmachungsinitiative, dass sie ihre Vorlage zurückziehen wollen.
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
3 Minuten
Spezialist für Bundespolitik. Vorher Journalist bei der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA) und bei Radio Fribourg.
Bis ins Jahr 1981 nahmen die Behörden armen Familien die Kinder weg – unter dem Vorwand, die Eltern seien randständig. Eine Praxis, die Zehntausende Kinder betraf und heute als skandalös betrachtet wird. Das Schicksal dieser Kinder war häufig schlimm: Zwangsarbeit, Wegsperrung, Misshandlungen und sogar Sterilisation.
Ein überparteiliches Komitee forderte mit einer 2014 eingereichten VolksinitiativeExterner Link einen Fonds von 500 Millionen Franken zur Entschädigung der Opfer sowie eine historische Untersuchung, um Klarheit in die Angelegenheit zu bringen.
Entschädigungen schon im nächsten Jahr
Das Parlament hat den Betrag auf 300 Millionen Franken beschränkt. Gemäss Schätzungen des Bundes sind 12’000 bis 15’000 Personen anspruchsberechtigt, die von den Fremdplatzierungen persönlich und gravierend betroffen waren. Sie dürften Entschädigungen von durchschnittlich 20’000 bis 25’000 Franken erhalten.
Das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG) enthält aber mehr als finanzielle Unterstützung: Es anerkennt, dass den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen Unrecht angetan worden ist, «das sich auf ihr ganzes Leben ausgewirkt hat».
Die Autoren der Initiative haben den Entscheid des Parlaments als «akzeptabel» bezeichnet und angekündigt, dass sie ihr Begehren zurückziehen wollen, wenn der Gegenvorschlag vom Parlament in der Schlussabstimmung gutgeheissen werde. Wenn kein Referendum ergriffen wird, könnten die ersten Entschädigungen ab April 2017 ausbezahlt werden.
Lob für das Instrument der Volksinitiative
Die Vorsteherin des Justiz- und Polizeidepartements, Simonetta Sommaruga, erinnerte die Parlamentarier daran, dass es der Entscheid ermögliche, eine Ungerechtigkeit gegenüber Opfern anzuerkennen, von denen einige heute noch lebten.
Dass einige der Opfer bereits betagt sind, gibt der Angelegenheit auch eine zeitliche Dringlichkeit: «Wir haben keine Angst, die Vorlage dem Stimmvolk zu unterbreiten, aber bis zur Umsetzung der Initiative würde es mehrere Jahre dauern», sagte Ständerat Joachim Eder (FDP).
Andere Parlamentarier lobten die Volksinitiative als Instrument der direkten Demokratie und als Druckmittel, die Behörden zum Handeln zu bringen.
«Ohne den Druck der Initiative wäre es kaum vorstellbar, dass die Opfer nun von konkreten finanziellen Entschädigungen profitieren können», sagte Ständerat Paul Rechsteiner (SP).
Sogar Werner Hösli (SVP), einsamer Gegner der Vorlage im Ständerat, beschrieb die Volksinitiative als legitimes Mittel im Kampf für eine bestimmte Sache.
Externer Inhalt
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler und Sibilla Bondolfi)
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Eine Ausstelllung im Politikforum Käfigturm beschäftigte sich mit der Tragödie Tausender von Kindern, die von den 20er- bis zu den 60er-Jahren aus ihren Familien herausgerissen wurden. Fotografien von Paul Senn, FFV, Kunstmuseum Bern.
Guido Fluri verlangt Gerechtigkeit für gestohlene Kindheit
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
«Das ist aussergewöhnlich: Kaum haben wir unsere Initiative bei der Bundeskanzlei eingereicht, kommt die Landesregierung mit einem Gegenvorschlag!», freut sich Guido Fluri. Der lange Kampf, damit die Schweiz ihre Augen gegenüber einem wenig ruhmvollen Kapitel ihrer Vergangenheit öffnet, trägt Früchte. Vor zwei Jahren noch undenkbar, ist heute das Prinzip einer Wiedergutmachung auf dem Weg. Bevor…
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Sexueller Missbrauch, Gefühlskälte, Ausnutzung als Arbeitssklaven, Verweigerung von Grundrechten - in der Schweiz wurde bis in die 1970er-Jahre vielen Kindern grosses Unrecht angetan.
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Bis 1981 wurden in der Schweiz 100'000 Kinder aus ärmlichen Verhältnissen fremdplatziert. Nun fordern ehemalige Opfer Wiedergutmachung.
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
«Ich bin ohne Vater geboren worden, und meine Mutter hat mich der Grossmutter gegeben. Als diese starb, hat man mich zuerst bei den Schwestern und dann bei einem Bauern platziert. Vor Schulbeginn musste ich täglich die Kühe melken. Man hat mich schlecht behandelt. Ich war ein Niemand», erzählt Paul Stutzmann. Der heute 72-jährige Freiburger war…
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Die von der Universität Basel durchgeführte Studie wurde von der Berner Kantonsregierung im Jahr 2006 in Auftrag gegeben. Unter dem Titel «Die Behörde beschliesst – zum Wohl des Kindes?» ist sie nun als Buch erschienen. Die Praxis, Waisenkinder oder Kinder aus armen Familien bei anderen Familien zu platzieren, war vor allem im bernischen Emmental und…
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Bis in die 1960er-Jahre wurden Tausende von Kindern ihren Eltern weggenommen und in Erziehungsinstituten oder bei anderen Familien, insbesondere Bauern, untergebracht. Diese jungen Menschen mussten häufig harte Arbeit verrichten. Zudem kam es auch immer wieder zu Missbräuchen. Fremdplatziert wurden sie von den Behörden, weil sie Halb- oder Vollwaisen waren, die Eltern unverheiratet oder arm waren.…
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Historiker wollen jetzt das Verdingwesen, eines der dunkelsten Kapitel der jüngsten Schweizer Geschichte, endlich aufarbeiten. Marco Leuenberger war 10 Jahre alt, als ihm sein Vater über dessen Zeit als Verdingbub erzählte. Was der Vater mit 10 Jahren hatte durchmachen müssen, fort von der Familie, um 5 Uhr aufstehen und bis abends um 20 oder 21…
Ihr Abonnement konnte nicht gespeichert werden. Bitte versuchen Sie es erneut.
Fast fertig... Wir müssen Ihre E-Mail-Adresse bestätigen. Um den Anmeldeprozess zu beenden, klicken Sie bitte den Link in der E-Mail an, die wir Ihnen geschickt haben.
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch