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Von Chiles Weg zu seiner neuen Verfassung können alle lernen

Menschen feiern die Annahme des Verfassungsreferendum in Santiago, Chile im Oktober 2020.
Menschen feiern die Annahme des Verfassungsreferendums in Santiago, Chile im Oktober 2020. Keystone / Alberto Valdes

Verfassungen bilden die grundlegenden Spielregeln einer demokratischen Gesellschaft. Deshalb ist es sehr wichtig, wie und von wem sie geschrieben werden. Nach jahrzehntelangen Konflikten geht Chile nun einen neuen Weg, der eine ganze Welt inspirieren könnte - und auch Lehren aus den Erfahrungen anderer Länder wie der Schweiz, Island und Venezuela zieht.

Schon bisher war der 4. Juli ein bedeutsamer Tag: «Independence Day» in den Vereinigten Staaten.

Dieses Jahr wird ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der Demokratie zu diesem Kalenderblatt hinzugefügt: «Die Eröffnungssitzung des Verfassungskonvents findet am Sonntag, den 4. Juli 2021 um 10 Uhr im Gebäude des Nationalkongresses in der Stadt Santiago statt», verkündete der chilenische Präsident Sebastian Piñera Ende Juni.

Nach mehr als vierzig Jahren soll die vom Diktator Augusto Pinochet 1980 verabschiedete chilenische Verfassung komplett überarbeitet werden – und zwar von einer direkt von den Bürgerinnen und Bürgern des Landes gewählten Versammlung. Die Stimmbevölkerung wird zudem auch am Ende des Prozesses das letzte Wort zur neuen Verfassung haben.  

Wie ein Land regiert wird, wird nicht zuletzt durch die Verfassung definiert. Historisch gesehen sind die meisten Verfassungen aus besonderen und konfliktträchtigen Kontexten heraus entstanden wie Entkolonialisierung, Militärputsche oder Übergängen zur Demokratie.

Die Ausarbeitung neuer oder völlig überarbeiteter Verfassungen im Rahmen bereits etablierter demokratischer Kontexte ist deshalb bis heute eher unüblich.

Eine aktuelle Studie des in Santiago ansässigen Politikwissenschaftlers Gabriel Negretto hat im Zeitraum von 1900 bis 2015 gerade einmal rund zwei Dutzend solcher Fälle gefunden – mit der neuen Bundesverfassung in der Schweiz in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts als einem aussergewöhnlich friedlichen und inklusiven Beispiel. Genau dies möchte nun auch Chile schaffen.

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Angesichts der Bedeutung von Verfassungen für die Demokratie ist es auch etwas erstaunlich, dass es nur so selten zu Totalrevisionen nationaler Verfassungen gekommen ist. Gerade auch angesichts des Umstands, dass Menschen auf der ganzen Welt zunehmend unzufrieden mit der Art und Weise sind, wie ihre Demokratien funktionieren.

Viele fordern Reformen, auch Verfassungsreformen. Diesem Veränderungswillen gegenüber stehen in vielen nationalen Verfassungen jedoch starre Regeln, die eine Änderung praktisch verhindern.

Der partizipative Schweizer Prozess

Es gibt aber auch Ausnahmen: die Schweiz gehört dazu. Hier sind die Bürgerinnen und Bürger direkt befugt, eine vollständige oder partielle Überarbeitung ihrer Grundgesetze zu initiieren. In der Schweiz haben zwei Prozent der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger (gemäss Art. 138 der BundesverfassungExterner Link) das Recht, einen vollständigen Verfassungsgebungsprozess zu initiieren.

Wenn eine solche Initiative in einer Volksabstimmung angenommen wird, müssen Neuwahlen für das Parlament (direkt) und die Regierung (indirekt) abgehalten werden. Am Ende muss der Vorschlag der komplett erneuerten Verfassung erneut von den Bürgerinnen und Bürgern angenommen werden. In ähnlicher Weise sehen viele US-Bundesstaaten einen von den Bürgerinnen und Bürgern gesteuerten Verfassungsgebungsprozess vor.

Während Volksabstimmungen über Verfassungsänderungen weltweit recht häufig vorkommen, erlauben nur wenige Staaten den Bürgerinnen und Bürgern selbst, solche Änderungen zu initiieren.

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Chiles ganz eigener demokratischer Weg

In Chile war es kein bestimmter Artikel in der bestehenden Verfassung, dank dem der nun begonnene Prozess der Totalrevision in Gang kam. Es war vielmehr eine politische Vereinbarung, die eine Reihe von Ereignissen in Gang setzte. Am 25. Oktober 2020 stimmten mehr als 78% der chilenischen Wählerinnen und Wähler dem Vorschlag des Verfassungsausschusses des chilenischen Parlaments zu, die nationale Verfassung neu zu schreiben.

Dazu entschieden sich die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in einer zweiten Referendumsfrage für einen direkt gewählten Verfassungskonvent, der paritätisch mit Frauen und Männern besetzt sein und eine angemessene Vertretung indigener Räte im Konvent garantieren sollte.

Mitte Mai nun wählten die Chileninnen und Chilenen aus mehr als 1300 Kandidaten 155 Abgeordnete und bekräftigten damit ihren Willen, den Status quo zu überwinden: Die Kandidaten der politischen Parteien sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite erhielten so wenige Stimmen, dass weder die traditionellen rechten noch die linken Kräfte in der Lage sein werden, ein Veto gegen die anstehenden Vorschläge des Konvents einzulegen. Dieser wird stattdessen von unabhängigen Bürgerkandidaten und -kandidatinnen dominiert.

So gaben die Bürger Chiles der neuen Versammlung einen klaren Auftrag mit auf den Weg: «Renoviert unsere kaputte Politik und macht unsere Demokratie wieder demokratisch». In der Weltgeschichte hat es zwar solche Neuanfänge schon oft gegeben, aber nur selten waren sie auch wirklich erfolgreich.

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Lernen von den Fehlern in Island und Venezuela

In Island begann ein solcher von der Bevölkerung geforderter und der Regierung ausgelöster Prozess zur Überarbeitung der Verfassung im Nachzug zur grossen Finanzkrise vor einem Jahrzehnt: Während der Revisionsprozess sehr partizipativ war und 2012 sogar zu einer Volksabstimmung führte, ignorierten jedoch wechselnde Mehrheiten im Parlament das Ergebnis einfach. Ein jüngster Versuch, eine konkrete Änderung zu beschliessen, scheiterte vor wenigen Tagen.

Solche Probleme ergeben sich oft aus der fehlenden Verbindung zwischen den Basisbewegungen, die auf eine Veränderung drängen, und den traditionellen politischen Parteien, die befürchten, die Kontrolle zu verlieren. Sobald eine Krise überwunden ist, kehrt die normale Politik zurück und die Menschen verlieren die Möglichkeit, sich einzubringen.

Noch grösser sind die Risiken in Präsidialsystemen wie etwa in Venezuela. Hier werden nicht selten Konflikte zwischen der Rechtsstaatlichkeit und dem Willen des Volkes sichtbar. In Venezuela trat Hugo Chávez 1989 mit dem Versprechen an, die Verfassung zu ändern, was schon lange eine Forderung der Bürger war.

Er hatte keine Mehrheit im Kongress und die geltende Verfassung von 1961 liess die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung nicht zu. Noch am Tag seines Amtsantritts unterzeichnete der neue Präsident ein Dekret, mit dem er ein Referendum ansetzte, mit dem er das «rechtliche Hindernis» für die neue Verfassung aus dem Weg räumen wollte.

Wer von «Chilezuela» spricht, liegt falsch

Die Akteure in Chile, welche die Verfassungsänderung ablehnen – die traditionellen Medien und die politische Rechte – haben behauptet, dass Chile mit der Verfassungsreform dem katastrophalen Weg Venezuelas folgen werde. Dafür haben sie den Begriff «Chilezuela» geprägt.

Doch sie liegen falsch. Während in Venezuela die Regierungspartei jahrzehntelang die Kontrolle über den Verfassungsprozess übernahm und mehr als 90% der Sitze in der verfassungsgebenden Versammlung besetzte, führte die Wahl in Chile zu einem hochgradig pluralistischen Konvent mit keinerlei singulären Vetomächten.

Kommt hinzu, dass die Verfassungserneuerung in Chile ausschliesslich eine Forderung des Volkes war und keine Initiative der Regierung. Die politische Elite hielt sich lange zurück, stimmte aber letztlich dem neuen Weg zu, um auf die Welle der öffentlichen Unzufriedenheit zu reagieren, die Ende 2019 durch die plötzliche Erhöhung der Preise für den öffentlichen Verkehr anrollte.

Mit der Eröffnung des Verfassungskonvents am 4. Juli wurde nicht nur der «Vierte Juli» im globalen Süden neu erfunden, sondern vielleicht auch die moderne Demokratie.

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