Viele Fragen nach Russlands Aus im UNO-Menschenrechtsrat
Am 7. April hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen beschlossen, Russland wegen «grober und systematischer Menschenrechts-Verletzungen» in der Ukraine aus dem UNO-Menschenrechtsrat in Genf auszuschliessen. Wie wirkt sich dies auf die Arbeit des Rats aus, und welche weiteren Folgen wird dies haben?
Das einzige andere Land, das bisher aus dem Menschenrechtsrat abgewählt wurde, ist Libyen. Dies geschah 2011 als Reaktion auf schwere Verstösse durch das Regime von Diktator Muammar Gaddafi. Die Suspendierung Russlands ist die erste eines ständigen Mitglieds der «Big Five» im Sicherheitsrat, dem obersten Gremium der Vereinten Nationen.
Der von den USA angeführte Vorstoss erhielt in der UNO-Vollversammlung 93 Ja-Stimmen, darunter auch aus der Schweiz, während 24 Länder mit «Nein» stimmten, 58 sich enthielten und der Rest abwesend war.
«Die Teilnahme Russlands im Menschenrechtsrat ist eine Farce», sagte die US-Botschafterin bei der UNO, Linda Thomas-GreenfieldExterner Link, am 4. April. «Sie schadet der Glaubwürdigkeit des Rats und der UNO im Allgemeinen.»
Der ukrainische Botschafter Sergiy Kyslytsya, der für die Resolution plädierte, rief die Vollversammlung auf, «den Menschenrechtsrat und viele Menschenleben in der Welt zu retten». Er forderte die Mitglieder auf, nicht auf den «Nein»-Knopf zu drücken, «ein roter Punkt auf dem Bildschirm, rot wie das Blut unschuldiger verlorener Leben».
Die Abstimmung erfolgte nach Berichten über Hunderte von getöteten Zivilpersonen, die nach dem Abzug der russischen Truppen in Städten der Ukraine wie Butscha nahe Kiew gefunden wurden.
Zudem häufen sich die Beweise dafür, dass Russland zivile Infrastrukturen ins Visier nimmt, was für die Zivilbevölkerung lebensbedrohliche Zustände zur Folge hat – wie etwa die Belagerung der südukrainischen Hafenstadt Mariupol.
Für die Suspendierung Russlands aus dem 47 Mitglieder zählenden Rat war eine Zweidrittelmehrheit der stimmberechtigten Mitglieder in der Vollversammlung erforderlich (Stimmenthaltungen zählen nicht). Nach der Suspendierung kündigte Moskau seinen Rückzug aus dem Menschenrechtsrat an.
«Ambivalentes» Resultat
Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar gab es zwei weitere Abstimmungen in der Vollversammlung, in denen das Vorgehen Moskaus verurteilt wurde. Bei den vorherigen Abstimmungen stimmten 141 und 140 der 193 UNO-Mitgliedstaaten mit «Ja».
Bei der Abstimmung über die Suspendierung Russlands vom Menschenrechtsrat gab es jedoch nur 93 Ja-Stimmen, der Rest stimmte entweder dagegen, enthielt sich der Stimme oder stimmte gar nicht ab. Stellt dies die Legitimität der Abstimmung in Frage?
Phil Lynch, der in Genf ansässige Direktor der Nichtregierungs-Organisation Internationaler Dienst für Menschenrechte (ISHR), weist das zurück. Seiner Meinung nach hatten die beiden vorangegangenen Abstimmungen deklaratorischen Charakter und führten nicht zu einem konkreten Ergebnis, im Gegensatz zur Abstimmung über die Suspendierung.
«Ich denke, dass der Rückgang der Zahlen die Tatsache widerspiegelt, dass es sich um eine sehr folgenreiche Abstimmung handelte und Russland eine ernsthafte Mobbing-, Einschüchterungs- und Drohkampagne geführt hat», sagt er gegenüber SWI swissinfo.ch.
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Russische Drohgebärden
Mehrere diplomatische Quellen bestätigten gegenüber SWI swissinfo.ch, dass Russland ein Schreiben an seine Vertretungen geschickt hat. Darin warnte es davor, dass jedes Land, das mit «Ja» stimmt, sich der Stimme enthält oder nicht abstimmt, als «unfreundliches Land» betrachtet werde.
Lynch sagt, er habe den Brief gesehen, der an die Vertretungen in New York und Genf geschickt wurde und in dem auch davor gewarnt wird, dass es sowohl auf multilateraler als auch auf bilateraler Ebene ernsthafte Konsequenzen für den betreffenden Staat nach sich ziehen würde, sollte er nicht gegen die Suspendierung stimmen.
«Das ist keine unbedeutende Drohung von einem ständigen Mitglied des Sicherheitsrats mit erheblicher militärischer und wirtschaftlicher Macht und grossem Einfluss», sagt er.
Olivier de Frouville, Professor für öffentliches Recht an der Universität Paris 2 und Experte für Fragen der UNO-Menschenrechte, schätzt das Resultat der Abstimmung in der Vollversammlung als «ambivalent» ein.
Seiner Meinung nach wurden zwar die verfahrensrechtlichen Anforderungen erfüllt, aber «die Mehrheit ist nicht überwältigend. Dabei geht es nicht so sehr um die 24, die dagegen gestimmt haben, deren Gründe im Allgemeinen klar sind – eine Reihe von ihnen wird ebenfalls massiver Menschenrechts-Verletzungen beschuldigt. Aber die übrigen 58, die sich der Stimme enthalten haben, sollten den befürwortenden Staaten wirklich zu denken geben».
China stimmte mit «Nein», während es sich zuvor der Stimme enthalten hatte. Das Gleiche gilt für eine Reihe anderer Länder, vor allem in Afrika und Zentralasien. Indien, das sowohl mit Russland als auch mit dem Westen verbunden ist, aber seit den Gräueltaten in Butscha Russland vielleicht nicht mehr so sehr unterstütztExterner Link, enthielt sich erneut der Stimme.
Grobe Missbraucher als Ratsmitglieder
Die Suspendierung Russlands wirft eine weitere Frage auf. Es gibt noch andere unter den 47 Mitgliedern des Menschenrechtsrats mit einer erschreckenden Menschenrechts-Bilanz, namentlich China und Eritrea, aber auch Venezuela, Kuba und die Vereinigten Arabischen Emirate, denen Gräueltaten im Jemen-Krieg vorgeworfen werden. Warum also wurden sie nicht suspendiert, und was macht den Fall Russlands anders?
Lynch argumentiert, dass es sich um eine Kombination von Faktoren handelt, mit «überwältigenden Beweisen für Gräueltaten, die im Rahmen eines Angriffskriegs gegen einen souveränen Staat begangen wurden, was einen Verstoss gegen die UNO-Charta selbst darstellt. Das macht den Fall Russlands anders und erklärt, warum gegen das Land Massnahmen ergriffen wurden, die gegen andere Staaten nicht ergriffen wurden, die für systematische Verstösse verantwortlich sind».
De Frouville sagt, es sei ein politischer Entscheid mehrerer Staaten, ein Mitglied zu suspendieren und ein anderes nicht. Er bedauert, dass «es keinen unabhängigen Expertenmechanismus gibt, welcher der Vollversammlung eine Empfehlung für die Suspendierung eines Staats gibt».
Er stimmt jedoch zu, dass «die Situation in der Ukraine eine Besonderheit aufweist, die mit dem Kontext der Aggression zusammenhängt und die man in anderen Situationen nicht findet».
Man könnte jedoch argumentieren, dass Eritrea, das seit dem Jahr 2000 zu den schlimmsten Menschenrechts-Verletzern der Welt gehört und als «Nordkorea Afrikas» bezeichnet wird, auch anderswo militärisch interveniert hat. So werden seine Truppen beispielsweise beschuldigt, einige der schlimmsten Massaker und Vergewaltigungen im äthiopischen Tigray-Krieg begangen zu haben.
Lynch weist darauf hin, dass für die Suspendierung eines Mitglieds aus dem Menschenrechtsrat eine Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder in der Vollversammlung erforderlich ist.
«Im Fall von Eritrea gab es unter den afrikanischen Staaten nur eine sehr schwache Unterstützung – und in vielen Fällen eine starke Opposition – für die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen und anderen Mechanismen», sagt er.
«Es ist sehr schwer vorstellbar, wie man die für eine Suspendierung Eritreas erforderliche Zahl von Staaten zusammenbekommen könnte, ohne eine Mehrheit in seiner eigenen Gruppe zu haben.»
Und was ist mit China, dem ein möglicher Völkermord an der uigurischen Bevölkerung vorgeworfen wird, sowie die Unterdrückung in Hongkong?
«Ich denke, dass im Fall von China die Beweise für weit verbreitete grobe und systematische Verstösse überwältigend sind, die möglicherweise auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen, besonders in der Region Xinjiang», so Lynch.
«Aber es ist derzeit sehr schwierig zu sagen, wie man eine Mehrheit für eine Suspendierung Chinas bekommen könnte, angesichts des Ausmasses seiner finanziellen, politischen und militärischen Macht und seines Einflusses wie auch der Abhängigkeit vieler Staaten von China.»
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Wie wird sich Russlands Rückzug auf den Rat auswirken?
Nachdem die Vollversammlung für die Suspendierung Russlands vom Menschenrechtsrat gestimmt hatte, kündigte Moskau seinen Rückzug an. «Das ist so, als würde man seine Kündigung einreichen, nachdem man gefeuert wurde», sagte ein westlicher Botschafter.
Wie wird sich der Austritt Russlands auf den Rat auswirken? Der Rückzug bedeutet, dass ein Sitz frei wird, und es wird eine Abstimmung stattfinden, um ein Ersatzmitglied aus der osteuropäischen Gruppe zu wählen. Ein UNO-Sprecher sagte, es sei noch nicht klar, wann diese Abstimmung stattfinden werde.
De Frouville glaubt, dass der Rückzug Russlands die Atmosphäre im Rat verbessern wird. «Russland war in den letzten zwei Jahren eindeutig ein wichtiger Spannungsfaktor, da es eine Reihe von Initiativen aggressiv in Frage gestellt hat – nicht in der Erwartung, die Abstimmung zu gewinnen, sondern um einen ideologischen Standpunkt zu vertreten», sagt er.
«Neben vielen anderen Beispielen haben sie sich kürzlich gegen Sprachregelungen zur besseren Integration von Kindern ausgesprochen und zehn ablehnende Änderungsanträge zu einem Resolutionsentwurf über das Recht auf eine saubere Umwelt eingereicht. Ausserdem haben sie Änderungsanträge zur Verteidigung so genannter ‹traditioneller Werte› zu Themen wie reproduktive Rechte und Gewalt gegen Frauen eingebracht.»
Lynch meint, der Rückzug Russlands bedeute, «dass sie den Menschenrechtsrat effektiv boykottieren, auf ihren Sitz als Mitglied verzichten und sich aus dem Menschenrechtsrat zurückziehen werden». Zumindest theoretisch könnte Russland jedoch weiterhin als Beobachterstaat fungieren. Das liege in Moskaus Hand, sagt Lynch.
Er ist der Meinung, dass Russland auf jeden Fall weiterhin Lobbyarbeit betreiben und andere Staaten bedrohen wird, «wenn nicht direkt, dann durch Stellvertreterstaaten wie Belarus», sagt der NGO-Direktor.
«Die Tatsache, dass sie eine solche Kampagne der Einschüchterung gestartet haben, zeigt meiner Meinung nach, dass der Menschenrechtsrat wichtig ist und dass Staaten wie Russland und China versuchen, ihre Mitgliedschaft darin zu nutzen, um Menschenrechts-Standards zu untergraben und sich der Rechenschaftspflicht zu entziehen.»
(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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