Taiwan, Demokratie-Tiger Asiens mit Schweizer Genen
Am Samstag erlebt Taiwan eine Premiere: Für die Stimmbürgerinnen und -bürger der asiatischen Insel stehen über zehn nationale Volksabstimmungen an. Die Geschichte eines direktdemokratischen Brückenschlages von der Schweiz um die halbe Erdkugel nach Asien.
Die letzten Meter sind die härtesten: Die Beine bleischwer, die Lunge pumpt Luft. Doch am Ende schafft es Yu Mei-nu zuoberst auf den Gipfel: «Das ist ja fast wie zuhause», sagt die erschöpfte Parlamentsabgeordnete aus Taiwan glücklich.
Bei prächtigem Herbstwetter steht Mei-Nu Yu auf der Rigi. Der Berg in der Zentralschweiz wird auch «Königin der Berge» genannt. «Bei uns zuhause gibt es auch solche Berge, von denen man fast das ganze Land sieht», schwärmt sie.
Im Fernsehstudio live dabei
Der taiwanesische Gipfelsturm auf die Rigi erfolgt am Nachmittag des letzten Schweizer Abstimmungssonntags vom 23. September 2018.
Zuvor hatte die fernöstliche Delegation aus Politikern, Behördenvertreterinnen, Forschern und Journalistinnen ein Abstimmungslokal im Zürcher Hauptbahnhof besucht. Danach konnte sie das Auszählen der Stimmen mitverfolgen.
Schliesslich waren sie auch zu Gast im Abstimmungsstudio des Schweizer FernsehensExterner Link in Zürich. Dort konnten sie hautnah miterleben, wie Polit-Expertinnen und -Experten die Resultate der Urnengänge live analysierten und kommentierten.
«Wir können viel von der Schweiz lernen»
In den drei Tagen zuvor hatte die Studiengruppe viel über die Verfahren und die Praxis der modernen Demokratie in der Schweiz erfahren: In Bern stand ein Besuch im Bundeshaus auf dem Programm.
In Luzern hatten die Mitglieder der Studiengruppe Gelegenheit, mit Aktivistinnen und Aktivisten ins Gespräch zu kommen, die auf Strassen und Plätzen für oder gegen Initiativen und Vorlagen auf lokaler, kantonaler und eidgenössischer Ebene warben.
«All dies hat mich schwer beindruckt», sagt Jen-Jey Chen, Chefredaktor der taiwanesischen Nachrichtenagentur CNAExterner Link: «Als junge und dynamische Demokratie können wir sehr viel von der erfahrenen Schweiz lernen. Vor allem vielleicht, dass man auch als Abstimmungsverlierer ganz zufrieden sein kann.»
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Schweizer Förderung asiatischer Volksrechte
Organisiert und mitfinanziert wurde die Studienreise der Fachleute aus dem Inselstaat vom Eidgenössischen Departement für Auswärtige Angelegenheiten (EDA)Externer Link.
«Demokratieförderung gehört zu unserem Verfassungsauftrag», sagt Rolf Frei, der Schweizer Vertreter in der taiwanesischen Hauptstadt Taipei. Er begleitet die Delegation. «Nirgendwo in Asien sind die Volksrechte so weit entwickelt wie in Taiwan», sagt Frei.
Transfer von Expertise
An dieser Entwicklung ist die Schweiz beteiligt: Seit 2003, als das taiwanesische Parlament das erste Referendumsgesetz verabschiedet hat, findet zwischen der Schweiz und Taiwan ein reger Austausch statt.
Der Transfer von Schweizer Demokratie-Expertise trug wesentlich dazu bei, die im Gesetz enthaltenen ursprünglich hohen Hürden abzuschwächen. So können nun seit diesem Jahr 280’000 Stimmberechtigte eine Volksinitiative oder ein Referendum zur Abstimmung bringen. Das sind 1,5% der 19 Millionen Stimmberechtigten Taiwans.
Zum Vergleich: In der Schweiz sind für die Abstimmung über eine Volksinitiative 100’000 Unterschriften nötig, das sind fast 2% der Stimmbürger.
Von null auf zehn
Und die Taiwanesinnen und Taiwanesen liessen sich nicht zweimal bitten: In den letzten Monaten schafften es nicht weniger als zehn Komitees, gültige Gesetzesinitiativen und Volksreferenden einzureichen.
Somit können nun die Stimmbürgerinnen und -bürger am 24. November etwa über die gleichgeschlechtliche Ehe, die Kernenergie und die Lebensmittelsicherheit abstimmen. Und darüber hinaus geht es auch um den Namen der taiwanesischen Delegation bei Olympischen Spielen.
Politik im Büro, im Taxi, auf der Strasse
Szenenwechsel, Taipei vor wenigen Tagen: Im nationalen Parlament hat Yu Mei-Nu zu einer öffentlichen Anhörung über die direkte Demokratie im taiwanesisch-schweizerischen Vergleich geladen.
Mitglieder der Studiengruppe berichten über ihre Eindrücke aus der Schweiz, taiwanesische Vertreterinnen und Vertreter von Initiativkomitees vermitteln Eindrücke ihrer Kampagnen.
Einige Ergebnisse aus dem direktdemokratischen Erfahrungsaustausch: In Taiwan findet Politik und Demokratie weniger am Küchentisch, sondern auf der Strasse, am Arbeitsplatz, im Bus oder im Taxi statt. Abgestimmt wird nur gerade an einem Tag, und zwar physisch im Abstimmungslokal. Briefliche Stimmabgabe ist nicht möglich.
Auch wird jeder Stimmzettel bei der Auszählung hochgehalten, bevor er registriert wird. Dieses Verfahren ermöglicht es Beobachtenden der verschiedenen Seiten, die Auszählung direkt zu überwachen.
Schweizer Gelassenheit lernen?
Der laufende Abstimmungskampf wird intensiver geführt als in der Schweiz. Überall wird über die Vorlagen gesprochen und gestritten.
«Von der Schweiz könnten wir sicherlich eine gewisse Gelassenheit lernen», sagt Da-Chi Liao von der Nicht-Regierungs-Organisation «Taiwan Open Democracy Observatory Association»,Externer Link die ebenfalls an der Studienreise in die Schweiz teilnahm: «Aber dafür braucht es Zeit und wohl viele Abstimmungstage».
Ausstellung und Weltkonferenz
Für das kommende Jahr ist eine weitere Vertiefung des bilateralen Dialoges über die Möglichkeiten und Grenzen der direkten Demokratie geplant. So soll die vom EDA entwickelte Ausstellung «Modern Direct Democracy»Externer Link durch Taiwan touren.
Und im Herbst 2019 findet das von zahlreichen Schweizer Institutionen mitorganisierte «Global Forum on Modern Direct Democracy»Externer Link erstmals seit Seoul 2009 wieder in Asien statt – in Taichung, Taiwans zweitgrösster Stadt.
Mit einer der weltweit fortschrittlichsten Gesetzgebungen zu den direktdemokratischen Volksrechten setzen die Taiwanesen ein Zeichen in einer Region, die zuletzt hauptsächlich mit der Rückkehr autoritärer Regimes von sich reden machte. Und diese Gegenentwicklung hat gerade erst begonnen.
Unter Druck von China
Das demokratische Taiwan ist noch relativ jung. 1949 flüchteten die Kuomintang («Nationalchinesen») als Verlierer des chinesischen Bürgerkriegs auf die Insel. Die eingeführte Militärdiktatur wurde 1987 mit der Aufhebung der Ein-Parteien-Politik abgeschafft.
Die ersten freien Wahlen fanden 1996 statt, und im Jahre 2000 kam es zum ersten demokratischen Machtwechsel. Dies in einem Land, in dem es neben Menschen japanischer und chinesischer Abstammung auch 16 indigene Volksgruppen gibt.
Trotz dieser Entwicklung bleibt der Druck der Regierung der Volksrepublik China in Peking auf Taiwan gross. Die Kommunisten hatten unter Mao den Bürgerkrieg gewonnen. 1971 löste die Volksrepublik China Taiwan als offizielle Vertreterin Chinas in den Vereinten Nationen ab.
China bezeichnet den Inselstaat als «abtrünnige Provinz», die nötigenfalls auch mit Gewalt dem Festland untergeordnet werden könnte.
Die internationale Gemeinschaft inklusive der Schweiz folgt dieser «Ein-China-Politik» bis heute.
Die schnelle Demokratisierung Taiwans wird von der chinesischen Regierung nicht gerne gesehen und im laufenden Abstimmungs- und Wahlkampf mussten die taiwanesischen Behörden wiederholt gegen chinesische Fake-Konten in den sozialen Medien einschreiten.
Gleichzeitig sieht Taipei die weltweiten Spitzenränge in den Demokratie-Rankings als eine Art Lebensversicherung.
Taiwan und die Schweiz, die Weltnummer 22 bzw. 20 punkto Volkswirtschaft, haben auch sonst einiges gemein. Für die Schweiz ist Taiwan der siebtwichtigste Exportmarkt in Asien, und Schweizer Firmen beschäftigen hier knapp 18’000 Mitarbeitende.
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