Vom Winde verweht oder wenn Pestizide Grenzen überschreiten
Die Schweiz wird 2021 als erstes Land über ein nationales Verbot von Pestiziden abstimmen. Auf lokaler Ebene ist ihnen jedoch eine italienische Gemeinde vorausgegangen: Die Einwohner von Mals im Südtirol sagten 2014 Ja zu einem Pestizidverbot. Aktuell liegt der Fall aber bei den Gerichten. Jetzt bestätigt eine Studie, dass Pestizide über die Grenze in die Schweiz gelangen – vom Wind getragen.
«Pflanzenschutzmittel aus dem Südtirol werden tatsächlich über die Grenze bis nach Valchava [einem Weiler im bündnerischen Münstertal auf 1440 Metern Höhe, 14 Kilometer von der italienischen Grenze entfernt] hineingetragen», schreibt das Amt für Natur und Umwelt des Kantons Graubünden am 29. September in einer MitteilungExterner Link und betont, dass «grosser Handlungsbedarf besteht».
In der Schweiz kommen diese Untersuchungsergebnisse zu einem politisch aufgeladenen Zeitpunkt. Nächstes Jahr entscheidet die Schweizer Stimmbevölkerung nämlich über zwei Volksinitiativen zu Pflanzenschutzmitteln.
Die Eidgenössische Volksinitiative «Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide» fordert ein Verbot von Pestiziden in der landwirtschaftlichen Produktion, in der Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte sowie in der Boden- und Landschaftspflege. Sie sieht auch ein Verbot der kommerziellen Einfuhr von Lebensmitteln vor, die Pestizide enthalten oder zu deren Herstellung Pflanzenschutzmittel verwendet wurden.
Unter dem Titel «Für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung» fordert die andere Initiative, dass Subventionen an Bauern mit ökologischen Anforderungen verknüpft werden. So soll kein Geld bekommen, wer prophylaktisch Antibiotika oder Pestizide einsetzt.
Bundesrat und Parlament lehnen beide Initiativen ab, das letzte Wort hat aber das Volk.
Denn die Anzeichen, dass giftige Rückstände das Trinkwasser viel stärker belasten als bisher angenommen, verdichten sich. Dies betrifft unter anderem das Seeland, ein traditionelles Gemüseanbaugebiet im Kanton Bern. Dort wurden Grenzwerte um bis das Zehnfache überschritten.
Es ist derzeit noch zu früh, um zu beurteilen, ob diese Untersuchungsergebnisse der Bündner Umweltbehörde die Schweizer Abstimmungen beeinflussen werden. Bekannt ist jedoch, dass die Messungen einen wichtigen Impuls für eine Volksabstimmung in Mals/I gaben, wo im Jahr 2014 mehr als 75% der Stimmenden dem Vorschlag für eine «pestizidfreie Gemeinde» zustimmten.
Vergebliche Suche nach einem Kompromiss
Seit einigen Jahren beobachteten Bewohner von Mals, einer italienischen Alpengemeinde in der Nähe der schweizerischen und österreichischen Grenze, mit wachsender Sorge den Vormarsch von Apfelplantagen vom unteren in den oberen Vinschgau. Sie waren besorgt über die Auswirkungen der im intensiven Anbau in den Niederstammkulturen verwendeten Pestizide auf Gesundheit und Natur.
Zunächst wählten die Bewohnerinnen und Bewohner den Weg des Dialogs, um mit allen Beteiligten eine Kompromisslösung zu finden. In Zusammenarbeit mit den italienischen Provinzbehörden erarbeiteten sie Richtlinien, in denen Schutzmassnahmen gegen Pestizide festgelegt wurden. «Da diese Massnahmen nicht rechtsverbindlich waren, war es den Betroffenen egal», sagt Tierarzt Peter Gasser.
Die Ergebnisse erschüttern die öffentliche Meinung
Im Jahr 2010 kam es zum Paukenschlag. Analysen von Grasproben in der Nähe von Apfelplantagen ergaben Konzentrationen von Pestiziden, die weit über dem Grenzwert lagen.
Die Veröffentlichung dieser Ergebnisse hatte laut Josef Thurner, Landwirt und derzeitiger Bürgermeister von Mals, vielen Leuten die Augen geöffnet.
«Von diesem Moment an wurde uns endlich klar, dass es in einem Gebiet wie Mals, das in kleine Parzellen aufgeteilt ist und in dem der Wind fast ständig weht, unmöglich ist, Pestizide einzusetzen, ohne dass sie ausserhalb des Feldes landen», sagt auch Gasser. Das war der Moment, in dem ein Verbot denkbar wurde.
Ein Schritt zur direkten Demokratie
Die Pestizidgegner organisierten sich. Eine Umfrage ergab, dass die Mehrheit der Bevölkerung mit der Idee sympathisiert, chemische Pestizide zu verbieten. «Viele Bürgerinnen und Bürger fragten uns, was wir tun wollten, und sagten uns, dass auch sie aktiv werden wollten», erinnert sich Thurner.
Es kam die Idee einer Volksabstimmung auf. Dafür habe man das Kommunalstatut über die politischen Rechte ändern müssen, um den Menschen mehr Mitwirkungs- und Entscheidungsmöglichkeiten zu geben, erklärt der damalige Bürgermeister Ulrich Veith. «Für uns war es wichtig, dass das Referendum verbindlich und nicht nur konsultativ war», betont Gasser.
«Wir haben uns die Schweiz zum Vorbild genommen», sagt Veith. Das Schweizer Modell ist in Mals sehr bekannt: Alle unsere Gesprächspartner erwähnen es und halten es für die ideale Lösung, repräsentative mit direkter Demokratie zu verbinden.
Nachdem die gesetzlichen Grundlagen geschaffen worden waren, sammelte die Gruppe «Pestizidfreie Gemeinde Mals» Unterschriften für eine Abstimmung. «Wir brauchten 289 Unterschriften, bekamen aber etwa 800», sagt der Sprecher der Gruppe, der Apotheker Johannes Fragner-Unterpertinger. «Unsere Sache fand Gehör. Auch an unseren Veranstaltungen nahmen viele Personen teil.»
Triumphmarsch
Das Anliegen verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Es entstand die Bürgerinitiative HollawintExterner Link, die in Zusammenarbeit mit bereits bestehenden Gruppen viele Menschen einbezog und dem Thema durch eine Reihe von Aktionen zur Verbreitung von Informationen und zur Diskussion von Problemen grosse Sichtbarkeit verlieh. «Mit unseren Aktionen wollten wir nicht mit dem Finger auf jemanden zeigen, sondern eine positive Botschaft vermitteln», sagt Martina Hellrigl, eine der vier Initiantinnen.
Die wachsende Volksbewegung führte zu einer Volksabstimmung darüber, Mals in eine pestizidfreie Gemeinde umzuwandeln: Bei einer Beteiligung von fast 70% sagten mehr als drei Viertel der Stimmenden Ja.
Das Referendum brachte die italienische Gemeinde in die internationalen Nachrichten. «Die Journalisten sind sogar aus Japan angereist», lacht Thurner.
Epilog vor Gericht
Die lokalen politischen Behörden setzten den Willen der Bevölkerung um – mit einer Verordnung über den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Die Gegner fochten diese Verordnung jedoch gerichtlich an. Im Oktober 2019 hob das Landesverwaltungsgericht Bozen die Verordnung auf mit der Begründung, die Gemeinde sei nicht zuständig. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, eine Beschwerde ist vor dem Berufungsgericht hängig. Bis dahin ist die Verordnung ausgesetzt.
Dennoch: Mals ist heute internationales Vorbild für Bürgerbewegungen, die sich für ein Verbot von Pflanzenschutzmitteln einsetzen. Der Kampf gegen Pestizide hat sich weltweit intensiviert.2021 werden sich die Augen der Weltöffentlichkeit angesichts der beiden Volksabstimmungen auf die Schweiz richten.
Sibilla Bondolfi
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