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«Die Freiheit des Schweizers beinhaltet das Recht auf eine Waffe»

Morgarten-Schiessen 2015.
Schiessen am Morgarten 2015. Die Schweiz zählt rund 60'000 lizensierte Schützen und Schützinnen. Keystone

Pro Tell, die Gesellschaft für ein freiheitliches Waffenrecht, ist durch die kurzfristige Mitgliedschaft des neugewählten Bundesrats Ignazio Cassis in den Fokus der Schweizer Medien geraten. Und profitierte offenbar von einem Gratiswerbungs-Effekt. An ihrer ausserordentlichen Generalversammlung in Bern schwor die Waffenlobby ihre Mitglieder auf ein mögliches Referendum ein gegen das verschärfte EU-Waffengesetz.

«Tell Wilhelm»: Der Name des mythologischen Schweizer Nationalhelden steht auf dem Mustermitgliederausweis, der am Eingang des Hotel National in Bern hängt. Und ohne Mitgliederausweis gibt es keinen Zutritt zur ausserordentlichen Generalversammlung von Pro Tell.

Wer Einlass erhält, bekommt einen Stoss Unterlagen, darunter das Rechtsaussen-Magazin Schweizerzeit und einen Bieröffner mit Emblem der Jungen Schweizerischen Volkspartei (SVP).

Die anwesenden 255 Mitglieder sind grossmehrheitlich männlich, wie auch der komplette Vorstand. Vor Beginn hört man Schweizer Dialekt, Französisch und Hochdeutsch. Soweit geht die kulturelle Vielfalt.

Ein angeblicher «Putsch»

Die Versammlung beginnt mit der Nationalhymne. Ausser zwei Vorstandsmitgliedern singt niemand die eingespielte Melodie mit, denn die Powerpoint-Folie mit dem Liedtext wurde erst danach eingeblendet.

Das ist sinnbildlich für die internen Pannen der Schweizer Waffenlobby im vergangenen Jahr: Im Herbst 2016 trat der langjährige Präsident von Pro Tell zurück. Er sprach von einem Putsch. Ende Juni 2017 wurde der auf ihn folgende Übergangspräsident samt Vorstand abgewählt. 

Der jetzige Präsident Hans-Peter Wüthrich, ein ehemaliger Brigadier der Schweizer Armee, trat Pro Tell erst zu jenem Zeitpunkt bei.

Pro-Tell-Präsident Hans-Peter Wüthrich (links) und Jean-Luc Addor, Vizepräsident.
Pro-Tell-Präsident Hans-Peter Wüthrich (links) und Jean-Luc Addor, Vizepräsident. protell.ch

An diesem Samstag in Bern deutet Wüthrich mögliche Ungereimtheiten in der Jahresrechnung 2016 an, kommentiert den Austritt des abgewählten Vorstands, sowie – mit etwas milderen Worten – den Ein- und Austritt des freisinnigen neuen Bundesrats Ignazio Cassis.

Bei so viel Umbruch rückt etwas in den Hintergrund, dass der aktuelle Vizepräsident von Pro Tell, der SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor, Mitte August erstinstanzlich wegen Rassendiskriminierung verurteilt worden ist. «Wir wollen mehr davon!» hatte er nach einer Schiesserei in einer St. Galler Moschee getwittert.

Es wäre viel Stoff für Selbstzerfleischung vorhanden, aber Wüthrich führt zügig durch die Traktanden, präsentiert den Mitgliedern ein neues Logo, eine neue Homepage und ein Strategiepapier mit ambitionierten Zielen. 

«Wir verlassen im Kampf – ich spreche ganz absichtlich vom Kampf – den rechtsstaatlichen Weg nie», so Wüthrich zu einem Punkt im Strategiepapier.

Ein «Cassis-Effekt»?

Cassis Kürzest-Mitgliedschaft

Im Oktober machten Schweizer Medien publik, dass Ignazio Cassis unmittelbar vor seiner Wahl in die Schweizer Regierung – sie war am 20. September 2017 – Pro Tell beigetreten war.

Aufgrund starker Kritik in der Öffentlichkeit zog der Tessiner Mitte Oktober die Notbremse und gab seinen sofortigen Austritt bekannt. 

Pro Tell reklamiert für sich, dass der «Fall Cassis» der Organisation rund 500 Neueintritte beschert habe.

Jean-Luc Addor sei es gelungen, auf dem nationalen Parkett eine politische Unterstützungsorganisation aufzubauen. Dazu habe der Vizepräsident 60 National- und Ständeräte vom Beitritt in eine parlamentarischen Gruppe gegen eine Verschärfung des Waffenrechts überzeugt. «Bern muss spüren, dass wir in Bern anwesend sind!», sagte Wüthrich.

Pro Tell zählt aktuell knapp 11’000 Mitglieder. Das sind 1500 mehr als bei der Abwahl des alten Vorstands Ende Juni. Laut Präsident Wüthrich sind etwa 500 davon auf die erhöhte Medienpräsenz der Organisation durch den  Ein- und Austritt von Bundesrat Cassis zurückzuführen. Anvisiertes Ziel bis Ende 2018 ist die Marke von 20’000 Mitgliedern.

Auch wenn dieses Ziel erreicht werden sollte: Dies wäre immer noch nur ein Bruchteil der hiesigen Waffenbesitzenden. Der Bund schätzt die Anzahl Schusswaffen in Privatbesitz in der Schweiz auf zwei Millionen. 

Das in Genf beheimatete Forschungsinstitut Small Arms Survey geht sogar von 3,4 Mio. Gewehren und Pistolen aus. Der Grossteil davon sind Waffen der Schweizer Armee, die nach dem Ende der Dienstzeit in den Besitz der ehemaligen Militärangehörigen übergehen.

Schützenhaus Schweiz

Ein weiterer bedeutender Anteil ist auf die Popularität des Schiesssports in der Schweiz zurückzuführen. Der Schweizerische Sportschützenverband zählt über 130’000 Mitglieder. Mehr als 60’000 davon, also rund die Hälfte, sind lizenzierte Schützen.

Die Aufforderung der Europäischen Union an die Schweiz, ihr liberales Waffenrecht einzuschränken, ist bei der Waffenlobby auf heftigen Widerstand gestossen. Ende September schickte der Bundesrat einen Vorschlag zur Umsetzung der EU-Waffenrichtlinie in die Vernehmlassung. Die europäische Waffenrichtlinie ist Bestandteil des Schengener Abkommens. Und dieses hat auch die Schweiz unterzeichnet.

Referendums-Drohung wirkt

Brüssel beschloss im April 2017 eine Verschärfung der EU-Waffenrichtlinie. Grund waren die Terroranschläge von Paris. Die strengeren Gesetze sind auch für das Schengen-Mitglied Schweiz verbindlich.

Pro Tell bekämpft die Verschärfung durch die EU heftig und droht mit dem Referendum. Das blieb nicht ohne Wirkung: Die Schweizer Regierung sieht in ihrem Vorschlag zur Umsetzung der EU-Bestimmungen Ausnahmen vor. So sollen halbautomatische Waffen mit grossen Magazinen erlaubt sein, wenn der Besitzer Mitglied eines Schützenvereins ist.

Ehemalige Armeeangehörige dürfen ihre Sturmgewehre gar wie bisher behalten. Sie müssen auch nicht, wie zuerst vorgesehen, einem Schützenverein beitreten.

Auch Sammler dürfen verbotene Waffen besitzen, sofern sie diese den Behörden melden.

Nicht unter das EU-Gesetz fallen Jagdwaffen.

Nach der Konsultation ist dann das Schweizer Parlament am Zug.

Sollte die Schweizer Lösung mit den Ausnahmen Tatsache werden, bliebe abzuwarten, wie Brüssel darauf regieren wird.

Raus aus Schengen

Präsentiert die Schweiz ein Waffengesetz, das für die EU inakzeptabel ist, wäre das Schengen-Abkommen als Ganzes infrage gestellt. Das ist Thema des Tages an der Versammlung – sogar im Gespräch mit dem Medienschaffenden. 

Gefragt nach der Anzahl Waffen in seiner Sammlung, muss ein junger Schütze aus Thun erst die Liste auf seinem Smartphone nachschlagen: 136 Waffen befinden sich in seinem Besitz. 

Darunter sind 26, die möglicherweise nicht mehr erworben werden dürfen, sollte die Schweiz die EU-Waffenrichtlinie übernehmen. Das sind etwa halbautomatische Pistolen, deren Magazin mehr als 21 Schuss aufnehmen kann. 

Der Vorschlag, den die Schweizer Regierung Parteien und Organisationen zur Konsultation vorgelegt hat, sieht Ausnahmen für Sportschützen, Jäger und Sammler vor. Darüber findet bei Pro Tell keine Diskussion statt.

Während einige Voten dahin zielen, dass ein Schengen-Austritt nicht zwingend wäre, erntet ein Mitglied Applaus für den Vorschlag, mit dem Schengen-Austritt für das Referendum zu werben: «Wenn es um eine Liberalisierung nach amerikanischem Vorbild ginge, wäre mein Umfeld dagegen. Falls aber die Ablehnung der Verschärfung des Waffengesetzes zu einem Austritt aus Schengen führen würde, wären sie dafür. Schengen ist zehn Mal teurer als angekündigt. Das Abkommen hat weitere Nachteile. Man sieht sie täglich auf unseren Strassen. Der Austritt aus Schengen wäre eine Chance für unser Land.»

«Mein General»

Andere empören sich, das aktuelle Waffengesetz sei das Gegenteil von liberal. Für einige war die Version von 1917 das noch gewesen, für andere auch noch die Bestimmung der 1960er-Jahre. 

Pathos ist allgegenwärtig. Ein Mitglied spricht Wüthrich nur mit «mon général» an. Wüthrich bedankt sich für jedes Votum – auch für eines mit rassistischem Subtext. Mit einer Gegenstimme und fünf Enthaltungen beschliesst die Versammlung, bei jeder Verschärfung des Waffengesetzes das Referendum zu ergreifen. Im Notfall auch im Alleingang.

Waffentragen als Grundrecht

Ähnlich wie die US-amerikanische Waffenlobby setzen die Pro-Tell-Mitglieder Waffenbesitz oft mit Grundrechten gleich. Ein Votant sprach vom «Schutz eines Eigentums, das zufällig Waffen sind». Pro Tell sei keine Waffenlobby, hatte Wüthrich in seiner Begrüssung erklärt, sondern eine Lobby, die sich für das Recht und die Freiheit unserer Bürgerinnen und Bürger einsetze.

Im persönlichen Gespräch während der Pause lud er diese Haltung mythisch auf: «Das ist aus der Tradition gegeben. Die Freiheit des Schweizers beinhaltet das Recht, eine Waffe zu besitzen.»

Auch das ist aus den USA bekannt. Die Grundrechts-Rhetorik bietet die Grundlage für die während der Versammlung zig-fach wiederholte Behauptung, Pro Tell sei keine politische Organisation. Diese Behauptung aber trifft – nicht nur wegen der SVP-Werbung beim Eingang – nicht zu. Übrigens wollte Wüthrich auf Nachfrage von der SVP-Werbung nichts gewusst haben.

Zu radikal?

Die Radikalität in Rhetorik und Inhalt könnte aber dafür sorgen, dass es Pro Tell trotz der gestärkten Verbindungen zu Parlament und Regierung nicht gelingt, das Schweizer Waffenrecht massgeblich zu prägen. 

Und zudem ist die Gesellschaft für ein freiheitliches Waffenrecht vielleicht bald wieder mit sich selbst beschäftigt – etwa wenn eine höhere Gerichtsinstanz die Verurteilung von Vizepräsident Addor bestätigen sollte.

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