Mehr Gleichstellung, «Alibifrauen nein danke»
Werden die Eidgenössischen Wahlen vom 18. Oktober den zaghaften Einzug der Frauen ins Schweizer Parlament wieder in Gang bringen? Oder wird sich der Rückschlag von 2011 wiederholen? Die Vorzeichen stehen nicht gut, doch die Frauenlobby schreitet zum Angriff: Sie lädt dazu ein, nur Kandidatinnen mit reellen Chancen zu wählen, und keine "Listenfüllerinnen".
Die Ausgangslage ist aus Sicht der Frauen entmutigend. Gewiss, mit 1308 Kandidatinnen in jenen 20 Kantonen, in denen bei den Wahlen vom 18. Oktober nach dem Proporzsystem gewählt wird, kämpfen so viele Frauen wie noch nie um einen Sitz im Nationalrat (grosse Parlamentskammer). Dies zeigen Daten des Bundesamts für Statistik.
Doch man sollte sich durch diese Zahl nicht in die Irre führen lassen: Auch die Anzahl Männer ist ein neuer Rekord: Es sind 2480. Die Frauenquote liegt deshalb bei 34,5%, und dies ist beileibe kein Rekord. Noch kleiner ist das Kandidatenfeld an Frauen für den Ständerat (kleine Parlamentskammer): Mit 34 Frauen auf 160 Kandidierende liegt die Quote hier bei 21,2%.
Frauen zu finden, die für ein solches Amt kandidieren möchten, sei schwierig, unterstreichen einhellig Madeleine Amgwerd, Vizepräsidentin der CVP-Frauen (Christlichdemokratische Volkspartei), Claudine Esseiva, Generalsekretärin der FDP-Frauen (Freisinnig-Demokratische Partei, FDP.Die Liberalen), und Judith Uebersax, Präsidentin der SVP-Frauen (Schweizerische Volkspartei).
Das ist in erster Linie auf die traditionelle Rollenteilung zurückzuführen, die in der schweizerischen Gesellschaft immer noch vorherrscht. «Arbeit und Familie unter einen Hut zu bringen, ist bereits kompliziert. Wenn dann noch die Politik dazukommt, wird es wirklich sehr schwierig», sagt Esseiva. Uebersax sieht den Mangel an Kandidatinnen eher im politischen Prozess: «In der Politik gibt es zu viele Machtspiele, was Frauen einschüchtert.»
Die Rolle der Parteien
Auch wenn die Abneigung von Frauen, in die Politik einzusteigen, eine Tatsache ist, bleibt auch unbestreitbar, dass Parteien, die wirklich Frauen in die Politik bringen wollen, dies auch schaffen. Dies zeigten die Zahlen, sagt Etiennette J. Verrey, Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für FrauenfragenExterner Link (EKF).
Wie die folgende Grafik zeigt, hängt die Anzahl Kandidatinnen tatsächlich stark davon ab, für welche Partei sie kandidieren. Und jene Parteien, in denen Frauen und Männer auf den Kandidatenlisten gleichberechtigt sind – das heisst, die Grünen und die Sozialdemokratische Partei (SP) –, sind dieselben, welche die Gleichstellung der Geschlechter unter ihren Vertreterinnen und Vertretern im Nationalrat erreicht haben.
Andererseits ist die Partei mit den wenigsten Kandidatinnen – die rechtskonservative SVP –auch jene mit den wenigsten weiblichen Abgeordneten.
«Die Parteien tragen eine grosse Verantwortung bei der Förderung der Gleichstellung: Sie sollten Kandidatinnen aufstellen und so genannte Zebralisten präsentieren, das heisst, mit Frauen und Männern auf abwechselnden Listenpositionen. Werden die Frauen nur auf den letzten Listenplätzen aufgeführt, haben sie praktisch keine Chance, gewählt zu werden», sagt die EKF-Präsidentin.
Sowohl die Frauen der CVP wie auch der FDP sensibilisieren die kantonalen Verantwortlichen der jeweiligen Mutterpartei fortwährend dafür, Kandidatinnen auf ihren Listen zu fördern, versichern Amgwerd und Esseiva. Doch die Geschlechterparität auf Listen dieser beiden traditionellen bürgerlichen Parteien ist noch in weiter Ferne.
Die SVP-Frauen ihrerseits wollen von der Förderung von Kandidatinnen nichts hören: «Die Partei verfügt über verschiedene Angebote, um Kandidierende zu fördern, aber sie alle richten sich immer unterschiedslos an Frauen und Männer», präzisiert Uebersax.
Parteizäune überwinden und «Frauen wählen»…
Die abweichende Meinung der SVP-Vertreter zeigt sich klar auch bei parteiunabhängigen Projekten zur Förderung von Frauenkandidaturen. Beispielsweise bei der Aktion «Frauen wählen!»Externer Link, welche die EKF gemeinsam mit einigen Frauen-Organisationen lacierte. Bei dieser Kampagne, sich bei den Wahlen für Kandidatinnen einzusetzen, machen 52 der gegenwärtig 71 im Parlament vertretenen Frauen mit. Die Vertreterinnen der SVP allerdings zeigen der Sensibilisierungskampagne die kalte Schulter: Lediglich eine macht dabei mit.
Die Rolle der Medien
Zum Projekt «Frauen wählen!» gehört auch eine Studie der Universität Freiburg. Diese untersuchte die Präsenz von Kandidaten und Kandidatinnen während des Wahlkampfs 2015 in den Medien.
Bei ähnlichen Studien 1999 und 2003 sei beispielsweise herausgekommen, dass Kandidatinnen weniger Platz in der Berichterstattung erhielten als ihre Kollegen, sagt Etiennette J. Verrey, Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen.
Nun sei es nötig, zu prüfen, ob die Medien die notwendigen Lehren daraus gezogen hätten. Diskriminierten diese die Frauen weiterhin, müssten Massnahmen zur Bewältigung dieser Problematik ergriffen werden.
Trotz der zunehmenden Bedeutung des Internets und der sozialen Netzwerke bleiben TV, Radio und Zeitungen die wichtigsten Informationskanäle während der Wahlkampagne, betont Verrey.
Trotz der fehlenden Unterstützung aus SVP-Kreisen ist Verrey zufrieden mit dem Support für das Projekt, wie auch mit der Verbreitung durch die Medien: «Ein grosser Teil der öffentlichen Meinung hat den Eindruck, dass die Geschlechtergleichheit bereits erreicht und es deshalb nicht nötig ist, Frauen zu fördern. Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Gesellschaft allgemein. Man ist sich nicht bewusst, dass die Realität anders aussieht. Mit unserer Aktion wollen wir dafür sorgen, dass darüber gesprochen wird. Und dass sich die Bevölkerung bewusst wird, wie wichtig es ist, wählen zu gehen und Frauen zu fördern.»
….aber keine «Alibifrauen»
Um die Frauenquote im Parlament wachsen zu lassen, sei es aber nötig, gezielt Frauen zu wählen, betont der Bund Schweizerischer Frauenorganisationen Alliance FExterner Link. Diese lancierte im Schlussspurt des Wahlkampfs für die Nationalratswahlen einen beispiellosen Aktionsplan, genannt «Clever wählen»Externer Link.
Alliance F vertritt über 150 Organisationen und damit die Interessen von etwa 400’000 Frauen in der gesamten Schweiz. Die Organisation liess wissenschaftlich ausrechnen, welche Kandidatinnen echte Chancen auf eine Wahl haben, oder zumindest auf den ersten Platz auf der Ersatzliste.
Daraufhin schickte sie diesen Kandidatinnen einen Fragebogen, um deren Engagement für die Hauptforderungen von Alliance F zu prüfen. Das Ziel des Dachverbandes ist eine Politik der Gleichstellung der Geschlechter in allen Bereichen. «Um von uns unterstützt zu werden, müssen sie mindestens sieben unserer zehn Hauptforderungen mittragen», präzisiert die Grünliberale Nationalrätin Kathrin Bertschy, Co-Präsidentin von Alliance F.
Auf Grund dieser Resultate stellte Alliance F Listen mit WahlempfehlungenExterner Link von Kandidatinnen zusammen. Dazu finden sich Profile und Antworten der unterstützten Frauen. Und nicht nur: Es wird auch explizit dazu aufgerufen, solche Stimmen nicht zu geben, die Männern auf Kosten von Frauen nützen würden.
«Das Wahlsystem mit Listenverbindungen und Unterlistenverbindungen ist derart komplex, dass es schwierig ist, klar zu erkennen, wer letztendlich von jeder Stimme profitiert. Wir wollen Licht und Transparenz hineinbringen», so Bertschy. Geht es nach ihr, ist dies «erst der Anfang eines Bewusstseins-Prozesses über die Funktionsweise des Wahlsystems, der dazu führen soll, strategisch zu wählen».
Das Gras auf der anderen Seite ist immer… rosafarbener
Im Schweizer Parlament sind die Frauen klar untervertreten: Gegenwärtig sind es 30,5% im Nationalrat und 19,6% im Ständerat.
Die Schweiz befindet sich damit gemeinsam mit Sudan auf dem 36. Rang einer WeltranglisteExterner Link der Interparlamentarischen Union über Frauen in nationalen Parlamenten.
Im Vergleich mit den Nachbarländern macht die Schweiz eine schlechte Figur: Nur Frankreich hat weniger Frauen in seiner grossen Parlamentskammer, dafür mehr im Senat.
(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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